Erinnerungskultur: "Muslime haben einen inneren Konflikt der Deutschen gelöst"

Artikel von Nina Monecke/ Zeit Online

Die türkische Anthropologin Esra Özyürek fand das deutsche Erinnern an den Holocaust einst vorbildlich. Heute übt sie Kritik: Antisemitismus werde an Muslime ausgelagert.

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or 20 Jahren, im Mai 2005, wurde das Holocaust-Mahnmal in Berlin als zentrale Gedenkstätte Deutschlands eröffnet. © SOPA Images/​Getty Images

Als sie Anfang der 2000er-Jahre nach Deutschland kam, sagt Esra Özyürek, sei sie beeindruckt gewesen von den Stolpersteinen in den Straßen und dem Umgang des Landes mit seiner NS-Geschichte. Dann begann sie, zur Rolle von muslimischen Menschen in der Gesellschaft und Erinnerungskultur zu forschen – und ihr Blick veränderte sich. Heute ist Özyürek Professorin an der Universität von Cambridge in London. Im März ist ihr Buch "Stellvertreter der Schuld – Erinnerungskultur und muslimische Zugehörigkeit in Deutschland" auf Deutsch erschienen.  

ZEIT ONLINE: Frau Özyürek, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben immer mehr Menschen in Deutschland keine familiären Verbindungen zur NS-Zeit— sie sind eingewandert oder die Kinder von Einwanderern. Was bedeutet das für das Erinnern an den Holocaust? 

Esra Özyürek: Nach meinem Verständnis müsste die deutsche Erinnerungskultur so funktionieren: Die Basis für ein neues, demokratisches Deutschland ist, die Verantwortung für die NS-Verbrechen und insbesondere den Holocaust zu übernehmen. Das können nicht nur ethnische Deutsche tun – so wie es die Nazis definierten –, sondern alle in diesem Land, die wollen, dass so etwas nie wieder geschieht. Aus der Geschichte zu lernen, wurde in Deutschland aber zu einer ethnischen Verantwortung: Wir Deutschen haben das getan, also ist es unser Problem. 

ZEIT ONLINE: Stimmt das denn nicht? 

Özyürek: Für mich steckt darin das Paradox der deutschen Erinnerungskultur: Der Kampf gegen Ausgrenzung führte dazu, dass wieder Menschen ausgeschlossen wurden. Nämlich solche, die keine ethnischen Deutschen sind und denen damit auch verwehrt wurde, vollwertiger Teil dieser neuen deutschen Gesellschaft zu sein. Dafür ist die Verantwortung für den Holocaust ja essenziell.  

ZEIT ONLINE: Trotzdem sind die familiären Verbindungen zur NS-Zeit doch wichtig. Immerhin wurde Deutschen häufig vorgeworfen, dass das Erinnern unpersönlich bleibt und viele sich nicht mit der konkreten Rolle ihrer Vorfahren beschäftigen wollen.   

Özyürek: Ich denke, je mehr Generationen dazwischenliegen, desto nachvollziehbarer ist es, dass Menschen diese persönliche Verantwortung weniger spüren. Ich sehe darin eine Chance für die deutsche Gesellschaft, zu sagen: Wir wissen darum, dass die Menschheit dazu fähig ist, solche Verbrechen zu begehen. Es ist hier, auf dem Boden dieses Landes, passiert. Wir übernehmen gemeinsam die Verantwortung dafür, dass sich das nicht wiederholt – egal, ob unsere Vorfahren schon damals hier lebten oder später eingewandert sind. Darum geht es doch: Alle Menschen sind gleich.   

ZEIT ONLINE: Sie haben selbst keine persönlichen Verbindungen zu Deutschland. Wie sind Sie dazu gekommen, hier zum Holocaust zu forschen? 

Özyürek: Ich bin 1971 in der Türkei geboren und in politisch linken Kreisen groß geworden. In meinem Heimatland wird der Genozid an den Armenierinnen und Armeniern geleugnet, es gibt viel Gewalt gegen Kurdinnen und Kurden und andere Minderheiten. Für mich und andere war Deutschland ein Vorbild, von dem wir hofften zu lernen. Zum einen, wozu Nationalismus und Faschismus führen können und zum anderen, wie ein Land mit seiner Geschichte verantwortungsvoll umgehen kann. Als ich hier 2006 ankam, war ich zum Beispiel sehr beeindruckt von den Stolpersteinen in den Straßen. 

ZEIT ONLINE: Heute ist Ihr Blick kritischer. Sie sagen, die deutsche Erinnerungskultur schließe vor allem muslimische Menschen aus, sie seien "Stellvertreter der Schuld". Erklären Sie das bitte.  

Özyürek: Anfang der 2000er kamen aus meiner Sicht mehrere Dinge zusammen. Der Blick auf Muslime veränderte sich, zum Beispiel durch den 11. September, aber auch durch die Zweite Intifada, während der Muslime auf deutschen Straßen und in anderen europäischen Städten Israelflaggen verbrannten. Gleichzeitig setzte sich langsam die bis heute gut belegte Haltung durch, dass die Deutschen nun allmählich genug Aufarbeitung geleistet haben. Es gab zwar das Wissen, dass Antisemitismus weiter bekämpft werden muss, aber auch den Wunsch, endlich ein "normales Land" zu sein, auf das man stolz sein darf. Man wollte nicht länger im Ausland Nazi genannt werden. Meine These ist, dass Muslime diesen inneren Konflikt für die Deutschen gelöst haben. Und zwar, indem man sich fortan auf ihren Antisemitismus konzentrierte.  

ZEIT ONLINE: Wie kommen Sie zu dieser Annahme?  

Özyürek: In dieser Zeit sind zahlreiche Bildungsprogramme zum Holocaust entstanden, die sich explizit an muslimische Menschen richteten und in die viel öffentliches Geld floss. Mich hat irritiert, dass es diese Angebote nicht für alle migrantischen Gruppen gibt, sondern vor allem für türkisch- und arabischstämmige Menschen. Zunächst dachte ich, die Programme dienen vielleicht dazu, Menschen zu integrieren. Meine Beobachtung war aber letztlich eine andere. Dort ging es dann zum Beispiel um den Mufti von Jerusalem, der einst mit den Nazis kollaborierte. Muslimische Menschen sollten ihren Antisemitismus und ihren Anteil am Holocaust aufarbeiten, während nicht muslimische Deutsche diese Arbeit angeblich weitgehend abgeschlossen hatten.  

ZEIT ONLINE: Aber es gibt ja Antisemitismus unter muslimischen Menschen, das zeigt nicht zuletzt der Anstieg antisemitischer Straftaten seit dem 7. Oktober. Geht das in Ihrer Kritik nicht unter?  

Özyürek: Ich leugne nicht, dass es Antisemitismus unter muslimischen Menschen gibt, es ist ein weitverbreitetes Phänomen in der gesamten Gesellschaft. Der muslimische Antisemitismus ist dabei stärker mit dem Nahostkonflikt verbunden, die Sicht auf Israel ist eine andere. Nicht jede Kritik an der israelischen Regierung sollte als antisemitisch eingestuft werden. In Deutschland haben aber einige Menschen das Gefühl, dass es wenig Raum gibt, das Vorgehen von Israel in Gaza zu kritisieren. Meine vorsichtige Prognose ist: Sollte es irgendwann zu einem gerechten und nachhaltigen Frieden in der Region kommen, wird die Zahl der antisemitischen Straftaten von muslimischen Menschen hier

auch wieder sinken. Der tieferliegende Antisemitismus wird aber bleiben.  

ZEIT ONLINE: In Ihrer Feldforschung haben Sie unter anderem Gruppen türkisch- und arabischstämmiger Jugendlicher in die KZ-Gedenkstätte Auschwitz begleitet. Was haben Sie dabei beobachtet? 

Özyürek: Die Jugendlichen waren sehr berührt von den jüdischen Schicksalen. Das ist mir besonders aufgefallen, weil es so konträr zu dem häufig gezeichneten Bild von ihnen in der Öffentlichkeit ist. Eine Szene mit einer Gruppe aus Duisburg ist mir sehr in Erinnerung geblieben: In der Gedenkstätte sind am Ende Familienfotos der später ermordeten Jüdinnen und Juden zu sehen, zum Beispiel von Feiern in schicker Kleidung. Die Jugendlichen haben in den Aufnahmen ihre eigenen Familienfeste und Rituale wiedererkannt. Sie fanden, dass sie einander ähnlich sehen. Ein Junge sagte immer wieder, dass eines der jüdischen Mädchen ihn an seine Schwester erinnere. Die Gruppe aus Duisburg hatte vor der Reise auch zum einst jüdischen Viertel in ihrer Stadt recherchiert. Heute leben dort viele türkeistämmige Menschen. Die muslimischen Jugendlichen haben sich sehr schnell mit den jüdischen Opfern identifiziert. 

»Von den muslimischen Jugendlichen wird erwartet, dass sie sich mit der deutschen Seite, der Seite der Täter, identifizieren.«