Erdrückende Inflation in der Türkei: „Ich kann mir kaum noch was zu essen kaufen“
Von Susanne Güsten
Die Inflationsrate in der Türkei liegt bei 73 Prozent – doch Präsident Erdogan behauptet, das sei kein Problem.
„Schwester, kannst du das Mikrofon ausmachen?“, bittet ein Teppichverkäufer in der Altstadt von Istanbul, bevor er sich zur Wirtschaftslage äußern mag. Wer solle ihm kleinen Mann denn helfen, wenn er eingesperrt werde, fügt er entschuldigend hinzu, wo doch selbst die prominenten Intellektuellen nicht mehr freigelassen würden.
„Wenn ich jetzt zum Beispiel sagen würde, dass Deutschland an unserer Wirtschaftsmisere schuld ist, dann wäre das in Ordnung - das könnte ich ins Mikrofon sagen.“ Die erdrückende Inflation zu beklagen und die Wirtschaftspolitik der türkischen Regierung zu kritisieren, das sei dagegen zu riskant .
Sein Geld reiche hinten und vorne nicht mehr, sagt der Mann, der in einem Teppichgeschäft angestellt ist. Bei 73,5 Prozent liegt die offizielle Inflation in der Türkei mittlerweile, so hoch wie seit 1998 nicht mehr. Regierungsunabhängige Experten und die Opposition werfen der Regierung vor, diese schockierende Zahl sei noch geschönt. Enag, eine Gruppe unabhängiger Wirtschaftswissenschaftler, beziffert die Inflationsrate auf 160 Prozent.
Gestiegene Energiepreise und der Ukraine-Krieg heizen die Inflation auf der ganzen Welt an, doch in der Türkei kommen hausgemachte Probleme hinzu. Nach der gängigen Volkswirtschaftslehre sollte ein Land als Mittel gegen die Inflation die Leitzinsen erhöhen, um das Geld knapper zu machen, doch Präsident Recep Tayyip Erdogan ist anderer Ansicht.
Auf seine Anweisung hin hat die türkische Zentralbank die Zinsen mehrmals gesenkt und damit die Inflation und den Wertverlust der Lira beschleunigt. Die türkische Landeswährung hat seit Anfang des vergangenen Jahres die Hälfte ihres Wertes gegenüber dem Euro eingebüßt. Trotzdem will Erdogan die Zinsen weiter senken.
Die Bürger begehren nicht auf
Für Normalbürger geht es um mehr als um Wirtschaftstheorie. Ein Frührentner, der mit umgerechnet 150 Euro im Monat auskommen muss, zählt seine Ausgaben auf: Miete, Wasser, Strom – „da kann ich mir kaum noch was zu essen kaufen“. Der Preis für ein Laib Brot hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Nach einer Schätzung der UN haben 15 Millionen Türken nicht genug zu essen.
Besonders empfindlich ist die Krise auf Wochenmärkten wie dem Sali Pazari im Istanbuler Stadtteil Kadiköy zu spüren, wo Menschen mit geringem Einkommen ihre Lebensmittel, Kleidung und Haushaltsartikel kaufen, während wohlhabende Türken in Einkaufszentren und Supermärkten shoppen wie die Deutschen.
In einer Tiefgarage werden in Kadiköy jeden Dienstag hunderte Stände aufgebaut, an denen alles von Tomaten und Käse bis zu Unterwäsche und Kinderkleidung zu einem Bruchteil der Ladenpreise feilgeboten wird. Selbst dort drehen die Käufer inzwischen jede Lira dreimal um, berichten die Händler.
Auch Benzin, Strom und Gas werden ständig teurer. Der Preisauftrieb hat sich so stark beschleunigt, dass die Entlastung durch eine Erhöhung des Mindestlohnes um 50 Prozent im vorigen Dezember schon verpufft ist. Auf die 4253 Lira des aktuellen Netto-Mindestlohns sind Millionen türkische Arbeitnehmer angewiesen. Im Dezember war die Summe noch 345 Euro wert, heute sind es noch 234 Euro.
[Wenn Sie die wichtigsten Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Selbst für kleine Freuden reicht das Geld oft nicht mehr. Käse-Toast ist einer der beliebtesten Snacks der Türken. An jeder Straßenecke ist der „Kasarli Tost“ in kleinen Läden und an Kiosken zu haben. Weil sich viele Türken den Käse nicht mehr leisten können, wird der Käse-Toast inzwischen mancherorts ohne Käse angeboten: Er besteht nur noch aus Toastbrot, Ketchup und einem Stück Paprika.
Trotz der Krise begehren die Bürger nicht gegen die Regierung auf, denn viele haben Angst, wegen kritischer Äußerungen ins Gefängnis zu kommen. Ein Journalist, dessen regierungskritische Straßenumfragen im Internet millionenfach angeklickt werden, berichtet von mehr als hundert Strafverfahren, die gegen ihn selbst und befragte Bürger laufen.
Nur drei Prozent der Türken können mit ihrem Einkommen bequem leben
Anonym erhobene Umfragen lassen erahnen, wie schwer der Alltag für viele geworden ist. Demnach können nur drei Prozent der Türken mit ihrem Einkommen bequem leben. Zwei Drittel der Befragten haben große Schwierigkeiten, mit ihrem Geld bis zum Monatsende auszukommen; die anderen schlagen sich durch, oft mit Hilfe von Verwandten. Andere belasten ihre Kreditkarten immer weiter oder legen sich weitere Kreditkarten zu, um ihre Rechnungen zu bezahlen oder die Schulden bei anderen Kartenanbietern zu begleichen.
Erdogans Regierung schwankt unterdessen zwischen Schönfärberei und Notmaßnahmen. Der Präsident behauptete vor ein paar Tagen, die Türkei habe überhaupt kein Problem mit der Inflation. Es gebe lediglich ein Problem wegen steigender Lebenshaltungskosten, sagte Erdogan. Worin für die Verbraucher der Unterschied bestehen soll, behielt er für sich. Kurz darauf verfügte die Regierung eine Deckelung der Mietpreise, die bis zum nächsten Jahr nur um 25 Prozent erhöht werden dürfen.