Merkel über Deutschtürken: „Nicht einfach zu glauben, dass sie die gleichen Chancen haben“
Hunderte Seiten an Berichten haben die Integrationsgipfel der vergangenen Jahre produziert. Aus der Theorie müsse Praxis werden, fordert Kanzlerin Merkel.
Kanzlerin Angela Merkel sieht noch viel Arbeit im Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus. „Da haben wir noch sehr, sehr viel zu tun, um wirklich die vielen Vorurteile aufzudecken, die teils bewusst, teils unbewusst da sind“, sagte die CDU-Politikerin am Dienstag in Berlin nach dem 13. Integrationsgipfel der Bundesregierung. Merkel erinnerte unter anderem an die Taten des NSU und den Anschlag von Hanau. Es sei etwa für türkischstämmige Menschen nicht so einfach zu glauben, dass sie hierzulande wirklich willkommen seien und gleiche Chancen hätten.
Den Integrationsgipfel gibt es seit fünfzehn Jahren, anfangs fand er alle zwei Jahre statt. Wegen der Corona-Pandemie berieten Vertreter von Bund, Ländern, Kommunen und Migrantenorganisationen diesmal digital miteinander. Dabei wurden auch die letzten Kapitel des sogenannten Nationalen Aktionsplans Integration vorgestellt. Unter Leitung der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz (CDU), waren in den vergangenen zwei Jahren Dutzende Maßnahmen für eine bessere Integration von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland beschlossen worden. Unter anderem sollen eigens entwickelte Strategien für mehr Teilhabe im Gesundheitswesen, in Kultur, Medien und im Sport sorgen.
Viel Theorie: Zeit für Umsetzung gekommen
„Es ist jetzt sehr viel theoretische Arbeit gemacht worden“, sagte Merkel. Nun müsse es aber an die Umsetzung gehen. „Vieles von dem, was wir hier machen, muss zur Normalität werden, das ist der Wunsch. Und zwar in der breiten Gesellschaft.“ Die Mehrheitsgesellschaft müsse offen sein und Vielfalt als Bereicherung begreifen. Zugleich bedürfe es aber auch der Bereitschaft von Menschen etwa mit Migrationsgeschichte, sich einzubringen.
Nach einer zum Integrationsgipfel veröffentlichten Studie des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) beteiligen sich Deutsche mit Migrationsgeschichte unterdurchschnittlich stark an Bundestagswahlen. Das gelte insbesondere für Wähler, die im Ausland geboren sind. Den Ergebnissen einer Befragung zufolge nahmen 85,8 Prozent der Erwachsenen ohne Migrationsgeschichte an der Bundestagswahl 2017 teil. Unter den Wahlberechtigten mit ausländischen Wurzeln waren es dagegen nur 65 Prozent. Die Nachkommen von Zuwanderern gingen etwas häufiger zur Wahl (66,2 Prozent) als diejenigen, die selbst zugewandert waren (64,6 Prozent).
Polat will mehr Möglichkeiten, mehr als eine Staatsangehörigkeit zu behalten
Daniel Gyamerah vom Verein „Each One Teach One“, der sich für die Belange schwarzer Menschen einsetzt, drang auf eine spezifische Förderung für diskriminierte Gruppen sowie Gleichstellungs- und Teilhabegesetze auf Bundes- und Landesebene mit Quoten. Zudem müsse die Antidiskriminierungsstelle des Bundes deutlich gestärkt werden.
Die integrationspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Filiz Polat, verlangte mehr strukturelle Maßnahmen. „Das bedeutet zum Beispiel eine Abkehr von der kurzfristigen Projektförderung hin zu einer dauerhaften Förderung von Organisationen.“ Es brauche ein echtes Demokratiefördergesetz und mehr Möglichkeiten, mehr als eine Staatsangehörigkeit zu behalten.
Linke vermissen „echten Willen“
Der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, Jörg Schindler, erhob ähnliche Forderungen. „Es fehlt bei der sogenannten „Integrationspolitik“ der Bundesregierung nicht an Beratung, sondern an echtem Willen“, beklagte er. Die Vorschläge lägen längst auf dem Tisch: Man brauche ein neues Staatsangehörigkeitsrecht mit einem Anspruch auf Einbürgerung nach fünf Jahren Aufenthalt.
Die migrationspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Linda Teuteberg, erklärte: „Beim Thema Integration gibt es kein Ankündigungs-, sondern ein Umsetzungsdefizit. Wir brauchen weniger Papier als wirkliche Weichenstellungen für besser funktionierende Integration.“ So brauche es unter anderem Investitionen in die Bildung, längere Integrationskurse und differenzierteren Sprachunterricht.
dpa/dtj