Menschenrechte in der Türkei am Boden

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dtj-online

-Am 10. Dezember ist Internationaler Tag Menschenrechte. Quelle: Shutterstock

#StandUp4HumanRights – ein Hashtag der Vereinten Nationen am Tag der Menschenrechte. Was sich nach einem freudigen Anlass anhört, ist in Wahrheit ein digitales Mahnmal. Es soll alle Menschen in Freiheit daran erinnern, dass es andere nicht so gut haben. In der Türkei sind auch an diesem Tag zehntausende Menschen grundlos oder aus fadenscheinigen Gründen inhaftiert, Frauen und Kinder ihrer Freiheit beraubt und Familien voneinander getrennt. Ein Überblick.

Das International Press Institute (IPI) hat anlässlich des Tags der Menschenrechte am 10. Dezember die Türkei dazu aufgerufen, allen Journalist:innen eine freie Berichterstattung zu ermöglichen. Laut IPI sitzen derzeit noch 79 von ihnen in türkischen Gefängnissen. 65 davon werden wegen Terrorismusvorwürfen in Haft gehalten. Mit der IPI-Kampagne #FreeTurkeyJournalists wird eine umfassende Dokumentation der Verstöße gegen die Rechte von Journalist:innen. Auch das Projekt „Sei meine Stimme“ setzt sich für sie ein und verleiht ihnen eine Stimme.

Pressefreiheit: Türkei auf Platz 154

Auch Reporter ohne Grenzen e.V. (RoG), ein international anerkannter Verein für die Rechte von Journalist:innen weltweit, verfolgt die Vergehen der türkischen Regierung gegen Medienschaffende. Auf der Rangliste der Pressefreiheit kommt die Türkei unter 180 Ländern auf einen miserablen 154. Platz. Anders als IPI zählt RoG nur 13 Journalisten in Haft: Das sind Ahmet Altan, Uğur Yılmaz, Ercan Gün, Gültekin Avcı, Ayşenur Parıldak, Hanım Büşra Erdal, Aytekin Gezici, Hüseyin Aydın, Ufuk Şanlı, Seyid Kılıç, Emre Soncan, Nedim Türfent und Miktat Algül. „In Dutzenden weiteren Fällen ist ein direkter Zusammenhang der Haft mit der journalistischen Tätigkeit wahrscheinlich, lässt sich aber derzeit nicht nachweisen (…) „, begründet RoG die geringe Anzahl der Inhaftierten.

Menschen werden wieder entführt

Alpay Antmen, Abgeordneter der größten türkischen Oppositionspartei CHP, hat ein Dossier mit dem Titel „Die Menschenrechte unter der AKP“ vorbereitet. Demzufolge ist die Türkei in dunkle, alte Zeiten der ungeklärten Entführungen zurückgefallen. Für diese Zeit steht sinnbildhaft das Oldtimer-Fahrzeug des weißen Ford Toros, mit dem in den 90er Jahren vor allem in den vor allem von Kurden bewohnten Gebieten Menschen entführt wurden. Viele dieser Personen sind nie wieder aufgetaucht. Auch DTJ-Online berichtete in den vergangenen Jahren häufig von Entführungen von vermeintlichen Regierungsgegnern, die nun auch grenzübergreifend stattfinden.

Internationale Presse greift Folter in türkischen Haftanstalten auf

Auch werden immer häufiger Fälle von Folter in der Türkei öffentlich bekannt. Zum Teil in Gerichtsdokumenten, aber auch in Augenzeugenberichten, werden Fälle von schwerer Folter detailliert beschrieben. Meistens handelt es sich um Vergehen in der Haft. Dabei soll es sich um keine normalen bzw. offiziellen Haftanstalten handeln, sondern um geheime Folterzentren, wie das gemeinnützige Recherchenetzwerk „Correctiv“ herausgefunden hat. In die Recherche waren unter anderem auch ZDF Frontal 21, Addendum, El Pais, Haaretz, Monday Morning, TT News Agency, Le Monde und Il Fatto Quotidiano involviert. Der Beitrag wurde als Black Sites Turkey bekannt und behandelt die spektakuläre Entführung von Gülen-Anhängern aus dem Kosovo im Jahre 2018.

Folter und Entführung auch 2020 aktuell

Anfang des Jahres tauchten neue Berichte über Folter auf. Eine Gruppe von Studenten wurde in der türkischen Hauptstadt Ankara im Februar durch das Dezernat für Terrorismusbekämpfung abgeführt. Ihnen wurde vorgeworfen, an der Neu-Strukturierung der Gülen-Bewegung beteiligt zu sein. Angesichts der großen Stille in den Medien und der Bevölkerung beklagte Mustafa Yeneroğlu, Ex-AKP-Politiker und erster Abgeordneter der neuen DEVA-Partei von Ali Babacan, die Ignoranz im Lande. „Folter ist eine Menschenrechtsverletzung“, so der ehemalige Erdoğan-Vertraute. Vor allem wegen der Menschenrechtsverletzungen trat er eigenen Angaben zufolge aus der AKP aus.

Rang 123 bei Einschränkungen der Grundrechte

Laut Alpay Antmen von der CHP sind zwischen 2002 und 2020 mehr als 432 ungeklärte Morde geschehen, die Petitionen zur Aufklärung einiger dieser Morde seien im Parlament 22 Mal durch das Veto der AKP verhindert worden. Außerdem sei die Türkei unter der AKP im weltweiten Index der Rechtsstaatlichkeit unter 128 Ländern bei den Einschränkungen durch die Regierung auf Platz 124, bei den Einschränkungen von Grundrechten auf Platz 123 und bei dem Recht auf Muttersprache auf Platz 103 gelandet.

Die Fälle Osman Kavala und Selahattin Demirtaş

Im Fall des in der Türkei inhaftierten Mäzens Osman Kavala fordert der Europarat eine sofortige Freilassung, da Kavala trotz Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte immer noch inhaftiert sei. Dieser Fall sowie jener des pro-kurdischen Politikers und ehemaligen HDP Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş sorgen für internationales Aufsehen. Die Türkei erhöht mit der Inhaftierung beider Persönlichkeiten nicht unbedingt ihr Ansehen. Dabei beteuert der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei jeder Gelegenheit, für ihn würden Menschenrechte an erster Stelle kommen. Doch Kavala und Demirtaş sind in seinen Augen, auch ohne rechtskräftige Verurteilung, einfach Terroristen.

Frauen und Kinder in Haft

Noch am 9. Dezember wurde Betül Uluçam (34) nur 24 Stunden nach der Geburt ihres Kindes durch die Polizei festgenommen und ins Gefängnis von Salihli gebracht. Als Begründung wird Uluçam eine Nähe zu Hizmet, besser bekannt als Gülen-Bewegung, vorgeworfen. Für die türkische Regierung ist die Bewegung des muslimischen Gelehrten Fethullah Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich. Belege, die auch international anerkannt würden, konnte oder wollte die Türkei bisher nicht liefern. Insofern gelten Anhänger von Hizmet auch in Ländern wie Deutschland, Frankreich, England und den USA etwa als politische Schutzbedürftige. Die Istanbuler Gefangenenhilfsorganisation „Ceza Infaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği“ (CISST) schätzt, dass über 700 Mütter mit ihren Kindern in türkischen Gefängnissen leben.

Einsatz für Menschenrechte: HDP-Abgeordneter Gergerlioğlu allein auf weiter Flur

Der HDP-Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu zählt zu den sehr wenigen Personen der Öffentlichkeit, die diese Fälle thematisieren. Via Twitter verurteilte der Politiker die Verhaftung der jungen Frau, die nach der Geburt noch gar nicht bei Kräften sein konnte. Außerdem beklagt Gergerlioğlu die Inhaftierung von Eltern kleiner bis junger Kinder, die bei Verwandten aufwachsen und das Gefühl von Familie verlieren. Sie sind mitunter die größten Leidtragenden des aktuellen Regimes, da sie unverschuldet ohne ihre Eltern aufwachsen.

Gewalt an Frauen nimmt stetig zu

Ein Dauerthema der vergangenen Jahre in der Türkei ist Gewalt gegen Frauen. Das hat sich auch 2020 nicht geändert. Vor wenigen Tagen ist die 25-jährige Selvan Acar in Fethiye in ihrer Wohnung leblos aufgefunden worden. Die Polizei fahndet derzeit nach ihrem Ehemann. Leider eine von vielen traurigen Schlagzeilen in diesem Jahr. 2003 starben laut einem Bericht des CHP-Abgeordneten Necati Tığlı 83 Frauen nach Gewalt durch Männer. In den ersten neun Monaten im Jahre 2020 liege diese Zahl bei 369. Dies sei ein Anstieg von 344,5 Prozent, den die AKP zu verantworten habe, so Tığlı. Laut Innenminister Süleyman Soylu liegt die Zahl der Morde an Frauen bei 234. Für den umstrittenen Minister ein deutlicher Rückgang zum Vorjahr, in dem 308 Frauen ums Leben kommen mussten. Zum Vergleich: In Deutschland erfasste das Bundeskriminalamt im letzten Jahr rund 130 Morde an Frauen. Wie auch in der Türkei sind die Täter meist die Partner oder Ex-Partner.