Amnestie-Gesetz: Nur Erdoğan genehme Häftlinge kommen frei

 
 

Um Covid-Ausbrüche zu bremsen, wird Kriminellen in der Türkei Haft erlassen. Das verstärkt das Problem häuslicher Gewalt. Und für Regimekritiker gilt die Amnestie nicht.

Drei Polizistinnen beaufsichtigen auf der Istanbuler Einkaufsstraße İstiklâl die Corona-Ausgangssperre (11. April 2020). © Umit Bektas/​Reuters Drei Polizistinnen beaufsichtigen auf der Istanbuler Einkaufsstraße İstiklâl die Corona-Ausgangssperre (11. April 2020).

Immerhin einen Profiteur hat die Corona-Pandemie in der Türkei: die Unterwelt. Einer ihrer führenden Leute, der langjährig inhaftierte Mafiaboss Alaattin Çakıcı, wurde dank des Virus am Donnerstag aus dem Gefängnis entlassen. Zugute kommt dem Schwerkriminellen ein Amnestiegesetz, das im türkischen Parlament am Dienstag beschlossen wurde, um die Ausbreitung von Infektionen in den überfüllten Haftanstalten des Landes einzudämmen.

Der 67-jährige Çakıcı, einer der prominentesten Häftlinge der Türkei, saß seit den späten Neunzigerjahren mehr oder weniger durchgehend im Gefängnis, unter anderem für den Auftragsmord an seiner Ex-Frau, die Führung einer kriminellen Vereinigung sowie die Anstiftung zu diversen Gewaltverbrechen. Noch 2018 bedrohte der Halbweltkönig, der neben seiner Mafia-Karriere auch in der ultranationalistischen Organisation der Grauen Wölfe aktiv war, aus dem Gefängnis heraus mehrere Journalisten mit dem Tod.

Nun gehört Çakıcı zu den rund 90.000 Häftlingen, die im Zuge der Corona-Amnestie aus der Haft entlassen werden – das entspricht etwa einem Drittel der derzeitigen Gefängnisinsassen in der Türkei. Ein Teil von ihnen soll seine Strafe bis auf Weiteres im Hausarrest abbüßen, der Rest, darunter Çakıcı, kommt durch Haftverkürzungen vorzeitig frei. Das türkische Fernsehen zeigte am Mittwoch Aufnahmen von Reisebussen, mit denen erste entlassene Häftlinge aus den Gefängnissen abtransportiert wurden.

Die Gefängnisse sind überfüllt

Eingebracht hatte den Entwurf des Amnestiegesetzes im Parlament die rechte Partei MHP, eine Bündnispartnerin der konservativen AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Kurz zuvor hatte das Justizministerium bekannt gegeben, dass die Corona-Pandemie den türkischen Strafvollzug erreicht hat, wo es neben mehreren infizierten Häftlingen und Angestellten bereits die ersten Todesopfer gab.

Die Gefängnisse des Landes sind seit dem gescheiterten Militärputsch von 2016 und den darauf folgenden Massenverhaftungen notorisch überbelegt. Mit umfassenden Säuberungen ist das Erdoğan-Regime in den vergangenen Jahren gegen tatsächliche und vermeintliche Staatsfeinde vorgegangen. Allein in den ersten Monaten nach dem Putsch wurden nach Angaben des Justizministeriums landesweit etwa 70.000 Verdächtige festgenommen, von denen knapp die Hälfte hinter Gittern landete – zeitweise saß demnach mindestens jeder zehnte Häftling in der Türkei aus politischen Gründen ein.

Gerade vermeintlich Terrorverdächtige aber wurden bei der Corona-Amnestie nun ausdrücklich ausgeklammert. Damit kommen zwar Schwerverbrecher wie Alaattin Çakıcı frei, während paradoxerweise all jene Journalistinnen und Journalisten, Anwälte, Menschenrechtler und sonstigen Regimeopfer in Haft bleiben, deren massenhafte Verfolgung der eigentliche Grund für die überfüllten Gefängnisse ist.

Der Freiheit keinen Schritt näher sind etwa der Kulturmäzen Osman Kavala, der kurdische Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş oder der Schriftsteller Ahmet Altan. Letzterer gehört mit 70 Jahren zur Corona-Risikogruppe und äußerte sich zuletzt sehr besorgt über seine Überlebenschancen. "Wenn das Virus im Gefängnis ankommt, wird es sich hier wie ein Waldbrand ausbreiten", sagte Altan der in Abu Dhabi erscheinenden Zeitung The National.

Alle oppositionellen Änderungsanträge zum Amnestiegesetz wurden im Parlament abgeschmettert. Kritisiert hatten Abgeordnete dort nicht nur die fragwürdige Ausklammerung politischer Häftlinge, sondern auch die sonstigen Auswahlkriterien. Türkischen Frauenverbänden war es im Vorfeld der Parlamentsdebatte zwar gelungen, einen ersten Gesetzentwurf zu verhindern, nach dem auch verurteilte Vergewaltiger aus der Haft hätten entlassen werden können. Züleyha Gülüm, eine Abgeordnete der prokurdischen Oppositionspartei HDP, äußerte sich trotzdem entsetzt darüber, dass durch die beschlossene Amnestie nun Täter freikämen, die Frauen körperlich misshandelt oder ihnen Gewalt angedroht haben.

Übergriffe von Männern auf Frauen sind in der Türkei ein tragisches Dauerthema, das sich im Zuge der Corona-Pandemie noch zugespitzt hat. Laut einer landesweiten Erhebung des Socio-Political Field Research Center aus Diyarbakır nahm Gewalt gegen Frauen seit Beginn der krisenbedingten Einschränkung des öffentlichen Lebens um fast 30 Prozent zu. Auch die Betreiber einer türkischen Telefon-Hotline für weibliche Gewaltopfer verzeichneten seit März eine Rekordzahl von Anrufen. In Istanbul meldete die Polizei gar einen Anstieg von Fällen häuslicher Gewalt um fast 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 

Mediziner sollen schweigen

Während manche Gewalttäter nun in die Freiheit entlassen werden, scheint die Zahl der politischen Häftlinge in der Türkei eher noch zu steigen. Laut Reporter ohne Grenzen wurden bereits Ende März sieben Journalisten festgenommen, denen man vorwarf, mit ihrer Corona-Berichterstattung "Panik verbreitet" zu haben. Innenminister Süleyman Soylu bestätigte in einem Fernsehinterview, dass aus demselben Grund mehrere Tausend Social-Media-Konten überprüft und mehrere Hundert Kommentatoren in Polizeigewahrsam genommen worden seien.

Dieses Schicksal widerfuhr etwa einem türkischen Lkw-Fahrer, der mit einem YouTube-Video den staatlich ausgegebenen Slogan "Evdekalk" (Bleib zu Hause) kritisiert hatte: "Wie soll ich zu Hause bleiben? Wenn ich nicht arbeite, habe ich kein Brot!" Die Justizbehörden interpretierten das als Aufruf zu Gesetzesverstößen und verurteilten den Mann zu einer Bewährungsstrafe.

Auch mehreren Medizinern war in den vergangenen Wochen nahegelegt worden, alarmierende Wortmeldungen zur Corona-Lage, die nicht mit dem staatlich verbreiteten Bild übereinstimmten, öffentlich zu "korrigieren". Eine Anzeige fing sich der Fernsehmoderator Fatih Portakal ein, der sich im Oppositionskanal Fox News über den staatlichen Umgang mit der Pandemie lustig gemacht hatte. Prompt beantragte Erdoğans Anwalt die Eröffnung eines Verfahrens gegen den Journalisten – wegen "Präsidentenbeleidigung".

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