Fethullah Gülen, eine prägende Persönlichkeit der jüngeren Geschichte, ist verstorben. Gülen war ein islamischer Gelehrter, Autor und Gründer der nach ihm benannten Bewegung, die sich selbst Hizmet nennt und deren Ziele nach eigenen Angaben Bildung, interreligiöser Dialog und sozialer Dienst umfassen. Kritisch und misstrauisch beäugt wurden jedoch auch seine Verbindungen zur Politik, die schließlich in einem Zerwürfnis mit der AKP und einer Verfolgung der Bewegung mündeten. Ercan Karakoyun, Vorsitzender der Stiftung Dialog und Bildung, ist eine prominente Stimme der Bewegung in Deutschland. Im Interview spricht er über Gülens Vermächtnis, die Herausforderungen und Fehler der Hizmet-Bewegung und ihre Perspektiven für die Zukunft.
DTJ: Herr Karakoyun, können Sie uns zunächst erklären, wer Fethullah Gülen eigentlich war und warum er für viele Menschen weltweit so bedeutsam wurde?
Ercan Karakoyun: Fethullah Gülen war ein islamischer Gelehrter, Autor und spiritueller Mentor, dessen Ideen und Lehren über Jahrzehnte hinweg Millionen Menschen inspiriert haben. Ursprünglich aus der Türkei stammend, lebt er seit den späten 1990er Jahren im Exil in den USA. Sein Wirken und seine Lehren, die unter dem Begriff „Hizmet“ – türkisch für Dienst – bekannt sind, haben Anhänger weltweit ermutigt, sich für Bildung, interreligiösen Dialog und soziale Verantwortung einzusetzen. Sein Einfluss ist besonders in den Bereichen Bildung, Medien und interreligiöse Zusammenarbeit spürbar, wo er als Brückenbauer und Verfechter einer weltoffenen Islaminterpretation geschätzt wird.
Gülen hat sich stets als Verfechter von Toleranz und Frieden dargestellt. Welche konkreten Lehren vertritt er, und warum finden sie so große Resonanz?
Die Kernlehre von Fethullah Gülen basiert auf den Prinzipien des Friedens, der Toleranz und des Dialogs. Er setzt sich für eine moderne und weltoffene Interpretation des Islam ein, die sich mit Wissenschaft, Bildung und demokratischen Werten vereinen lässt. Für Gülen sind Bildung und Wissen essenziell, um zur Entwicklung einer friedlicheren Gesellschaft beizutragen. Er fordert seine Anhänger auf, sich sozial zu engagieren und dabei Brücken zwischen Kulturen und Religionen zu bauen. Durch seine Botschaft motivierte er seine Anhänger dazu, Bildungseinrichtungen, soziale Einrichtungen und Dialogzentren zu gründen, die für das Wohl der gesamten Gesellschaft arbeiten.
In Deutschland engagieren sich Hizmet-Anhänger auch aktiv. Welche Rolle spielt die Bewegung hierzulande, und wie stark ist ihr Einfluss?
In Deutschland engagieren sich Hizmet-Anhänger in verschiedenen gemeinnützigen Projekten, die auf Gülens Ideale der Bildung, des Dialogs und der gesellschaftlichen Verantwortung aufbauen. Dazu gehören Schulen, Nachhilfezentren, Kulturvereine und Dialogzentren, die darauf abzielen, das gegenseitige Verständnis zwischen unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen zu fördern. Es gibt auch zahlreiche Veranstaltungen, bei denen der interkulturelle Austausch im Vordergrund steht und die die gesellschaftliche Partizipation stärken sollen. Hizmet versteht sich als Brücke zwischen der muslimischen und der nicht-muslimischen Gesellschaft und versucht, Vorurteile abzubauen und gemeinsame Werte hervorzuheben.
Die türkische Regierung beschuldigt die Bewegung, den Putschversuch von 2016 angeführt zu haben. Kritiker sehen die Bewegung als politischen Akteur. Wie reagieren Sie auf diese Vorwürfe?
Diese Anschuldigungen wurden wiederholt, jedoch gibt es bis heute keine stichhaltigen Beweise dafür. Der Präsident des deutschen Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, hat dies ebenfalls infrage gestellt und betont, dass es keine belastbaren Belege für eine Verwicklung der Hizmet-Bewegung in den Putschversuch gibt. Stattdessen sehen wir, dass Menschen weltweit verfolgt werden, nur weil sie zur Hizmet-Bewegung gehören oder als Sympathisanten betrachtet werden. Das zeigt deutlich, dass es nicht wirklich um den Putsch geht, sondern darum, eine muslimische Bewegung zu unterdrücken, die andere Ansichten und Ideale vertritt als die derzeitige türkische Regierung.
In der Vergangenheit galten Gülen und Erdoğan als Verbündete. Wie konnte es zu solch einem tiefen Bruch zwischen ihnen kommen?
In der Tat, in den Anfangsjahren unterstützten viele Menschen in der Hizmet-Bewegung Erdoğans Demokratisierungskurs. Damals war die Hoffnung groß, dass die Türkei sich in Richtung mehr Freiheit und Rechtsstaatlichkeit entwickeln würde. Leider wurde erst später klar, dass Erdoğan sich immer weiter von der Demokratie entfernte. Aus dieser Zeit entstand das Bild eines Bündnisses, doch die Bewegung vertrat zunehmend eine andere politische Haltung als Erdoğan, besonders bei Themen wie Demokratie und Freiheitsrechte.
Während Erdoğan immer mehr auf Machtzentralisierung und Unterdrückung setzte, verfolgte Hizmet weiterhin Werte wie Dialog statt Hass, Toleranz statt Unterdrückung und Freiheit statt Verfolgung. Diese grundlegenden Unterschiede führten letztendlich zum Bruch. Die anschließende Verfolgung der Bewegung intensivierte sich, und der gescheiterte Putsch im Jahr 2016 lieferte Erdoğan einen Vorwand, um gegen die Hizmet-Bewegung und viele andere Kritiker vorzugehen. Das hält bis heute an.
Auch in Deutschland gibt es Stimmen, die Hizmet vorwerfen, sektenähnliche Strukturen zu haben und intransparent zu sein. Was entgegnen Sie diesen kritischen Stimmen?
Dieser Vorwurf entsteht oft aus Unkenntnis und Missverständnissen. Hizmet ist keine geschlossene Organisation mit strikten Hierarchien oder dogmatischen Strukturen, sondern eine offene, dezentrale Bewegung. Die Mitglieder sind in ihrem Engagement freiwillig und eigenständig. Es gibt keine zentrale Kontrolle, keine strikten Vorgaben und auch keine „Glaubensprüfung“. Stattdessen steht es jedem frei, auf seine eigene Weise und im Rahmen seiner eigenen Überzeugungen zur Bewegung beizutragen.
Ein weiterer Punkt ist die Transparenz der Hizmet-Arbeit: Bildungseinrichtungen, Dialogzentren und Vereine agieren transparent und im Dialog mit der Gesellschaft. Sie arbeiten nicht im Verborgenen, sondern als Teil der Gesellschaft, um Brücken zu bauen und gesellschaftlichen Mehrwert zu schaffen. Der Vergleich mit sektenähnlichen Strukturen hält einer genaueren Betrachtung daher nicht stand.
Was wird aus der Hizmet-Bewegung nach dem Tod Fethullah Gülens? Glauben Sie, dass die Bewegung ohne ihren Gründer Bestand haben kann?
Die Zukunft der Hizmet-Bewegung liegt in den Händen der Menschen, die sich weiterhin für Frieden, Gerechtigkeit, Bildung und interkulturellen Dialog einsetzen. Gülens Lehren und sein Vermächtnis werden durch das Engagement aller, die sich der Bewegung verschrieben haben, lebendig bleiben. Hizmet ist mehr als eine einzelne Person – es ist eine weltweite Gemeinschaft, die sich dem Dienst an der Menschheit und der Förderung universeller Werte verpflichtet hat. In diesem Sinne bleibt die Bewegung auch nach seinem Ableben stark und engagiert.
Gerüchten zufolge soll Ekrem Dumanlı, ein enger Vertrauter Gülens, seine Nachfolge antreten. Können Sie das bestätigen?
Ich denke, dass es überhaupt keinen Nachfolger für Fethullah Gülen geben wird. Die Hizmet-Bewegung setzt traditionell auf eine dezentrale Führung und kollektive Entscheidungsfindung, ohne eine einzelne Person in den Mittelpunkt zu stellen. Das wird sich auch nach dem Ableben Gülens nicht ändern.
Ekrem Dumanlı, der als ehemaliger Chefredakteur der Zeitung Zaman eine bedeutende Rolle im Medienbereich der Bewegung innehatte, besitzt zwar ein gewisses Ansehen, doch seine Position wird sich voraussichtlich nicht wesentlich verändern. Die Leitung und Ausrichtung der Hizmet-Bewegung bleibt somit in der Verantwortung eines größeren Kollektivs, das Entscheidungen im Einklang mit den Grundwerten der Bewegung trifft.
Die Hizmet-Bewegung wird dafür kritisiert, in der Vergangenheit zu viel Macht in staatlichen Institutionen gesucht zu haben. Würden Sie im Rückblick sagen, dass dies ein Fehler war?
Die Hizmet-Bewegung wurde häufig dafür kritisiert, ihre gesellschaftlichen Ziele zu stark im Bereich der staatlichen Institutionen verfolgt zu haben. Diese Einbindung wurde zunehmend und auch zurecht als Machtanspruch interpretiert und hat der Bewegung, vor allem in der Türkei, erheblich geschadet. Um solche Fehler in Zukunft zu vermeiden, haben wir intensiv an den Grundwerten der Hizmet-Bewegung gearbeitet. Unser Ziel ist es, grundlegende Spielregeln zu formulieren, die das Engagement in der Bewegung leiten.
Diese Prinzipien basieren auf zentralen Werten wie Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und ethischem Handeln. Sie umfassen auch Geschlechtergerechtigkeit und die klare Trennung von Staat und Religion. Durch eine stärkere Fokussierung auf Transparenz, die Zivilgesellschaft und Bildung wollen wir sicherstellen, dass sich das Engagement der Hizmet-Bewegung zukünftig auf diese Grundwerte ausrichtet und Vertrauen schafft.
Hizmet hatte einst eine breite Anhängerschaft in der Türkei. Heute jedoch scheint die Bewegung, selbst außerhalb des Regierungslagers, verhasst zu sein. Wie erklären Sie sich diese Ablehnung? Und wie könnte Ihrer Meinung nach eine Versöhnung aussehen?
In der Türkei herrscht eine intensive Antipropaganda gegen die Hizmet-Bewegung, die nicht nur in regierungsnahen Medien, sondern auch in vielen unabhängigen Kanälen präsent ist, da die Medien aus Angst vor Repressionen oft dem vorgegebenen Meinungsbild folgen. Der Fall des Yeni Asya-Chefredakteurs, der verhaftet wurde, weil er eine Beileidsmitteilung für Fethullah Gülen schrieb, zeigt, wie stark die Atmosphäre von medialen Hetzkampagnen geprägt ist. Unter diesen Umständen ist es derzeit schwierig, in der Türkei eine positive Wahrnehmung für die Hizmet-Bewegung zu erzeugen.
Ich denke aber auch, dass das Bild in der Öffentlichkeit täuscht. Ich bin überzeugt, dass es weiterhin mehrere Millionen Menschen in der Türkei gibt, die Hizmet und ihre Werte sympathisch finden. Aufgrund der Repressionen haben jedoch auch sie Angst, ihre Unterstützung offen auszudrücken. Langfristig könnte ein positiveres Bild gesamtgesellschaftlich durch einen Wandel hin zu mehr Normalität in der Türkei erreicht werden. Wenn die Meinungsfreiheit, die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz wieder gestärkt wird, kann die Hizmet-Bewegung durch Transparenz und Öffentlichkeitsarbeit zeigen, für welche Werte sie steht. Dieser Prozess wird aber Zeit benötigen.
Ercan Karakoyun ist Vorsitzender der Stiftung Dialog und Bildung, die über die Ursprünge, die Entwicklung und die Aktivitäten der Gülen-Bewegung in Deutschland sowie über die Ideen und die Arbeit Fethullah Gülens informiert. Er setzt sich seit vielen Jahren für interkulturellen Dialog und Bildungsarbeit ein. Als Mitgründer und Kuratoriumsmitglied des House of One engagiert er sich zudem für ein interreligiöses Bet- und Lehrhaus der drei monotheistischen Religionen.