Abdullah Öcalan: Will Erdogans Bündnis den PKK-Führer freilassen?
Erst hatte Devlet Bahçeli, der gewiefte Parteichef der rechtsextremen MHP, die Türken damit überrascht, dass er Abgeordneten der kurdischen DEM-Partei die Hand schüttelte. Jener Partei also, die er regelmäßig als Hort des Terrorismus verunglimpft und deren Verbot er seit Langem fordert. Dann ging der mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan verbündete Bahçeli am Dienstag noch einen Schritt weiter. Er schlug vor, dass Abdullah Öcalan, der seit 1999 inhaftierte Anführer der PKK, in einer Fraktionssitzung der DEM-Partei im türkischen Parlament die Selbstauflösung seiner Miliz verkünden solle. Bahçeli fügte einschränkend hinzu, „falls die Isolation des Terrorführers aufgehoben wird“.
Im Laufe seiner nunmehr 25 Jahre langen Haft ist Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı über lange Phasen vollkommen von der Außenwelt abgeschirmt worden. In den vergangenen drei Jahren hat er weder Zugang zu seinen Anwälten noch Kontakt zu seiner Familie gehabt. Die Aufhebung seiner Isolation ist eine zentrale Forderung der DEM-Partei. Noch dazu verwies Bahçeli auf das „Recht auf Hoffnung“. Das bezieht sich auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach auch eine lebenslange Haftstrafe nach 25 Jahren überprüft werden müsse – also im Fall von Öcalan in diesem Jahr.
Selbst die DEM-Partei rätselt, was die Führung genau will
Was aber bezweckt die türkische Führung mit dem Vorstoß? Darüber herrscht selbst in der DEM-Partei noch immer Rätselraten. Mehr Klarheit könnte es geben, wenn Öcalan Besuch empfangen und sich so indirekt an die Öffentlichkeit wenden könnte. Am Mittwoch gab es Berichte, wonach Öcalans Neffe, der DEM-Abgeordnete Ömer Öcalan, ein Besuchsrecht erhalten habe. Später wurde dies dementiert. Noch sind die Hoffnungen, dass Bahçelis Worten tatsächlich Taten folgen, eher gering. Und sie wurden noch geringer, nachdem am Mittwochnachmittag ein Terrorangriff auf einen staatlichen Rüstungskonzern in Ankara verübt wurde, bei dem mindestens vier Menschen getötet und 14 weitere teils schwer verletzt wurden. Die DEM-Partei und die größte Oppositionspartei CHP äußerten beide die Vermutung, dass der Anschlag mit Bahçelis Vorstoß in Verbindung stehe. Der stellvertretende DEM-Vorsitzende Sezai Temelli sprach von einer „Provokation“.
Viele Beobachter bringen Bahçelis Vorstoß mit zwei Entwicklungen in Verbindung. Zum einen strebt Erdoğan eine Verfassungsänderung an. Sie könnte dem Präsidenten eine weitere Amtszeit ermöglichen. Bisher hat er dafür nicht die nötige Mehrheit im Parlament. Er könnte also versuchen, dafür die Unterstützung der DEM-Partei zu gewinnen. Zum anderen bereitet sich die Regierung in Ankara auf mögliche regionale Machtverschiebungen nach der amerikanischen Präsidentenwahl und im Zuge des Konflikts zwischen Israel und Iran vor. So könnte etwa ein Wahlsieg Donald Trumps mittelfristig zu einem Abzug der amerikanischen Truppen aus Syrien führen.
Das würde die mit Amerika verbündete kurdische YPG-Miliz schwächen, die nicht nur die Türkei als syrischen Ableger der PKK betrachtet. Eine militärische Eskalation zwischen Israel und Iran würde den Krieg außerdem bis an die Grenze der Türkei tragen – mit potentiell destabilisierenden Folgen. Die türkische Regierung erwarte große Verwerfungen und wolle deshalb Schwachstellen wie den auf niedriger Schwelle weiterschwelenden Konflikt mit der PKK abstellen, meint der Türkei-Forscher und Blogger Selim Koru. „Sie scheinen es eilig zu haben“, sagt er.
Was in Syrien passiert, hat oft Einfluss auf die kurdische Frage
Entwicklungen in Syrien haben schon oft Einfluss auf die kurdische Frage in der Türkei gehabt. Zunächst fungierte Syrien als Rückzugsort der PKK. Kurz nachdem Öcalan von Damaskus ausgewiesen worden war, wurde er 1998 in Kenia festgenommen. Der syrische Bürgerkrieg von 2012 an eröffnete den syrischen Kurden die Möglichkeit, ein eigenes autonomes Gebiet zu verwalten. Viele Kurden in der Türkei sahen darin einen symbolischen Sehnsuchtsort. Ankara besetzte daraufhin militärisch Teile Syriens.
2015 war ein Friedensprozess zwischen der Regierung Erdoğan und der PKK gescheitert. Damals verfügte die Guerilla noch über schlagkräftige Strukturen innerhalb der Türkei, was inzwischen nicht mehr der Fall ist. Auch der politische Arm der Kurdenbewegung hat seit der Inhaftierung des damaligen Parteichefs Selahattin Demirtaş im Jahr 2016 stark an Einfluss verloren. „Jetzt ginge es eher um eine Kapitulation“, sagt Koru. Manche glauben, Erdoğan könnte im „Herbst“ seiner Herrschaft danach trachten, sich mit einer Lösung der Kurdenfrage einen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern.
Allerdings ist völlig offen, was eine Freilassung Öcalans für die kurdische Bewegung bedeuten würde und ob die militärischen PKK-Führer in den irakischen Kandil-Bergen seinem Aufruf nach Auflösung der Organisation folgen würden. „Es ist unklar, wie viel Einfluss Öcalan auf Kandil hat“, sagt die Türkei-Expertin Hürcan Aslı Aksoy von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie vermutet, dass Erdoğan darauf abziele, die kurdische Partei weiter zu schwächen. „Innerhalb der Bewegung gibt es Spannungen zwischen Demirtaş und Öcalans Cliquen. Der Staat spielt damit“, sagt Aksoy. Der türkische Präsident hat Öcalan schon in der Vergangenheit für politische Manipulationen genutzt. Vor der wichtigen Bürgermeisterwahl in Istanbul von 2019 ließ er verbreiten, dass der PKK-Führer die Kurden aus dem Gefängnis heraus angeblich zur „Neutralität“ aufgerufen habe, während Demirtaş den Oppositionskandidaten Ekrem Imamoğlu unterstützte, der dann auch gewann. An den Ursachen des Konflikts zwischen der türkischen Mehrheitsbevölkerung und der kurdischen Minderheit würde eine Freilassung des 75 Jahre alten Öcalan nichts ändern. Sie liegen in der Definition der türkischen Nation als homogenes Volk mit nur einer Sprache. Sowohl die DEM-Partei als auch die größte Oppositionspartei CHP bemühten sich am Mittwoch, die Konzentration auf die Figur Öcalan für eine breitere Debatte über die Kurdenfrage zu nutzen. CHP-Chef Özgür Özel besuchte Demirtaş im Gefängnis. Anschließend sprach er sich für einen Prozess aus, der Kurden das Gefühl geben solle, gleichwertige Bürger der Türkei zu sein.