„Heimat“ Deutschland: Die Geschichte der türkischen Arbeitsmigration
Fast eine Million Menschen kamen in den Sechziger- und Siebzigerjahren als sogenannte „Gastarbeiter*innen” aus der Türkei nach Deutschland. Viele Familien blieben. Eine Einwanderungsgeschichte, die das Land bis heute prägt.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges geht es mit der deutschen Wirtschaft schnell bergauf. Doch es mangelt an Arbeitskräften. Es ist der Beginn der Arbeiter*innenmigration in der BRD. Auf Verträge mit Italien und Spanien folgt das Anwerbeabkommen mit der Türkei. Dieses Bild entstand 1981 im VW-Werk in Wolfsburg.
Wir schreiben das Jahr 1961. Die Welt steht im Bann des Kalten Krieges, der erste Mensch fliegt in den Weltraum, in Berlin wird der Grundstein für die Mauer der DDR gelegt und mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem finden die ersten Versuche einer Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen in Deutschland statt.
Inmitten dieser Geschehnisse unterschreibt die damalige Regierung der BRD einen Vertrag, der das Land prägen wird: das Anwerbeabkommen mit der Türkei.
Das Anwerbeabkommen 1961
Das Anwerbeabkommen ist ein Vertrag, der Deutschland beim Aufschwung helfen soll: Bereits Mitte der 1950er Jahre hat sich die junge Bundesrepublik wirtschaftlich stabilisiert. Die durch den Krieg zerstörten Städte befinden sich im Aufbau, es wird expandiert und der Industriesektor ausgebaut. All dies erfordert Arbeitskräfte. Doch die sind in Deutschland nicht vorhanden: 1961 herrscht in der BRD nahezu Vollbeschäftigung – bei 650.000 offenen Stellen.
Nachdem zunächst Verträge mit Ländern wie Italien oder Spanien abgeschlossen werden, folgt 1961 der Vertrag mit der Türkei.
Auf zehn Arbeitsplätze kommen 100 Bewerber*innen
Um interessierte Menschen anzusprechen, wird in der Türkei umfangreich Werbung für das Anwerbeabkommen geschaltet. Die Anforderungen lauten: maximal 40 Jahre alt, ledig, des Lesens und Schreibens mächtig, in körperlich guter Verfassung. Firmen aus der Bundesrepublik können ihre Anfrage über die deutschen Behörden direkt an die türkischen Arbeitsämter richten.
Der Andrang ist groß: Auf zehn Arbeitsplätze bewerben sich 100 Personen. Eine neu eingerichtete Anwerbekommission in Istanbul trifft nach strenger Beurteilung eine finale Auswahl für den deutschen Arbeitsmarkt.
Malochen in der Grube, putzen im Krankenhaus
Die ausländischen Arbeitskräfte werden vorwiegend in Branchen eingesetzt, in denen zu dieser Zeit immer weniger Menschen in Deutschland arbeiten wollen: die Arbeitsmigrant*innen arbeiten als Putzkräfte in Krankenhäusern, als Arbeiter*innen in Gruben oder am Fließband.
Von 1961 bis 1973 beantragen deutsche Unternehmen bei der Bundesanstalt für Arbeit rund 867.000 Arbeitskräfte aus der Türkei. Und es kommen nicht nur Männer: Ab Mitte der Sechzigerjahre ist etwa jede fünfte türkische Arbeitskraft weiblich. 1972 sind die Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei die größte Gruppe und lösen damit die Italiener*innen ab. Insgesamt bleiben von 14 Millionen Arbeitsmigrant*innen etwa zwei Millionen in der Bundesrepublik.
Es kommen auch viele Frauen nach Deutschland, um Geld zu verdienen: Etwa jede fünfte Arbeitskraft aus der Türkei ist weiblich. Dieses Bild wurde 1972 in einer Gastarbeiter*innen-Unterkunft der Carl Brandt, Zwieback und Bisquit GmbH aufgenommen.
Von „Gastarbeitern“ und getrennten Familien
Bezeichnet werden die Arbeitsmigrant*innen oft mit dem problematischen Wort „Gastarbeiter“. Dieser Begriff impliziert bis heute, dass die Arbeitsmigrant*innen als „Gast“ zuvorkommend behandelt werden – was mit einer gewissen Vorstellung von Verwöhnen und Einladen einhergeht.
Doch die Realität sieht anders aus. Die Menschen kommen zum Geld verdienen und arbeiten hart dafür. Und ihr Leben ist zunächst stark reglementiert: Viele wohnen jahrelang in Sammelunterkünften, einige direkt auf dem Werksgelände, arbeiten Vollzeit – häufig im Akkord- oder Schichtdienst. Sprachkurse oder andere Initiativen werden nicht angeboten. Es sind keinerlei Strukturen vorhanden, die eine Teilhabe am Alltag in Deutschland vorsehen.
Die Zeit in Deutschland ist daher für viele Arbeitsmigrant*innen als eine kurze Lebensphase geplant, die in vielen Fällen von Jahr zu Jahr verlängert wird. Für einige Kinder bedeutet das, getrennt von den Eltern aufzuwachsen. Sie werden in der Türkei dauerhaft bei Verwandten und sogar Nachbar*innen untergebracht oder pendeln, je nach individueller Lebenssituation der Familie, mehrmals in ihrem Kinder- und Jugendleben zwischen beiden Ländern hin und her.
Schätzungsweise 700.000 Menschen aus Familien mit türkischer Arbeitsmigrationsgeschichte sind in der Kindheit von Trennungserfahrungen in der Kindheit betroffen.
Anwerbestopp und Familienzusammenführung ab 1973
Als es im Jahr 1973 zu einer Rezession kommt, soll die steigende Zahl in Deutschland lebender Migrant*innen verringert werden. Der Anwerbestopp veranlasst immer mehr Arbeitsmigrant*innen, ihren Lebensmittelpunkt dauerhaft in Deutschland einzurichten. Die Anwerbeabkommen werden gekündigt.
Neue Arbeitsplätze können nur noch an Bürger*innen mit anderer Staatsangehörigkeit vergeben werden, wenn keine geeigneten deutschen Bewerber*innen oder aus der EU vorstellig werden. Bestehende Arbeitsverträge werden jedoch fortgeführt. So erscheint es vielen sicherer, in Deutschland zu bleiben. Dies führt zu einem verstärkten Familiennachzug, der gemäß Artikel 6 im Grundgesetz verankert ist.
Es kommt vermehrt zu Problemen bei der Wohnungssuche: Arbeitsmigrant*innen haben aufgrund diskriminierender Strukturen nur in bestimmten Gegenden Chancen auf eine Wohnung. Das führt in vielen Städten zu einem demografischen Wandel in einzelnen Stadtteilen. Es werden öffentlich scharfe und rechtspopulistische Diskussionen über eine „Ghettoisierung“ geführt.
Mehr Sichtbarkeit, mehr Rassismus
Das Leben der türkischen Migrant*innen wird nun im Alltag der Bundesrepublik sichtbarer. Sie sind nun plötzlich nicht mehr nur mehrheitlich isolierte Arbeiter*innen, sondern Nachbar*innen, Laden-, Restaurant-, Kiosk- oder Imbissbesitzer*innen, Eltern von schulpflichtigen Kindern – und Bestandteil der Gesellschaft.
Die rassistisch geführten Debatten zur Ausländer*innenpolitik werden im Laufe der 1970er und 1980er Jahre immer hitziger, insbesondere gegenüber den Migrant*innen aus der Türkei.
Der Musiker Ata Canani, Kind türkischer Arbeitsmigrant*innen, schreibt 1978 das sozialkritische Lied „Deutsche Freunde“. Darin heißt es: „Arbeitskräfte wurden gerufen - unsere deutschen Freunde - aber Menschen sind gekommen - unsere deutschen Freunde - nicht Maschinen, sondern Menschen. Und die Kinder dieser Menschen leben in zwei Welten. Ich bin Ata und frage euch, wo wir jetzt hingehören?“
Das Rückkehrhilfegesetz 1983
Unter Helmut Kohl verabschiedet die BRD 1983 das Rückkehrhilfegesetz. Von 1983 bis 1984 wird eine Prämie von 10.500 DM für die freiwillige Rückkehr in das Herkunftsland gezahlt, für jedes Kind gibt es einen zusätzlichen Betrag. 150.000 Menschen verlassen daraufhin Deutschland – und das meist überstürzt: Nach Annahme der Hilfe müssen sie innerhalb von vier Wochen ausreisen.
Was vielen dabei nicht bewusst ist: Mit der Rückkehr verzichten sie auf den ihnen zustehenden Arbeitgeberanteil zur Rentenversicherung. Für Deutschland bringt das Vorteile: Mit dem Rückkehrhilfegesetz kann die Rentenkasse damals mit 1,5 Milliarden D-Mark saniert werden. Für die meisten in Deutschland verbliebenen Migrant*innen ist das Gesetz und die vorherige politische Debatte eine Zäsur. Die Menschen wollen nicht mehr ohne jegliches Mitspracherecht am Rande der Gesellschaft stehen. Sie wollen mitgestalten, statt vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu werden.
Versäumnisse des Staates, unterstützende Angebote zur Teilhabe an Bildung, kulturellen und gesellschaftsrelevanten Themen werden noch stärker als zuvor durch Eigeninitiativen wie Vereine kompensiert. Zudem wächst in jener Zeit eine neue Generation von Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte heran, die in Deutschland Schulen besucht und andere Voraussetzungen als die Generation vor ihr hat.
Reform des Einbürgerungsgesetzes
Zu Beginn der Neunzigerjahre wird das Einbürgerungsgesetz überarbeitet. Nun ist es für eine größere Anzahl von seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Migrant*innen und ihre zum Teil in Deutschland geborenen Kinder möglich, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen und aktiv am politischen Leben teilzunehmen. 1994 ziehen mit Leyla Onur und Cem Özdemir die ersten Bundestagsabgeordneten in den Bundestag ein, deren Familien eine türkische Migrationsgeschichte haben.
Unterdessen häufen sich rassistische Anschläge: 1991 kommt es zu einer rassistischen Anschlagsserie in Hoyerswerda, 1992 folgen Rostock-Lichtenhagen sowie Mordanschläge in Mölln (1992) und Solingen (1993), bei denen acht deutsche Bürger*innen mit türkischer Migrationsgeschichte sterben. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) nimmt weder persönlich an einer der Trauerfeiern teil, noch spricht er sein Beileid aus. Überliefert sind die beschämenden Worte, er wolle nicht einem „Beileidstourismus“ verfallen.
Demonstration in Solingen: 1993 verüben hier Rechtsextreme einen rassistisch motivierten Mordanschlag. Fünf Menschen sterben, alle Bürger*innen mit türkischer Migrationsgeschichte.
Doppelte Staatsbürgerschaft seit 2000
Die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft im Jahr 2000 ist trotz der öffentlichen Kontroversen ein wichtiger Schritt mit identitätsstiftender Wirkung. Sie ermöglicht es vielen Bürger*innen, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, ohne ihre türkische aufgeben zu müssen.
Seit den 2000er Jahren erkennt die Bundesregierung die längst überfällige Einordnung Deutschlands als Einwanderungsland an. Mittlerweile werden die Arbeitsmigrant*innen des Anwerbeabkommens und ihre nachfolgenden Generationen als Teil der deutschen Identität verstanden.
Heute leben in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2,9 Millionen Bürger*innen mit türkischer Migrationsgeschichte.
Nach wie vor werden Debatten über den Integrationswillen von Migrant*innen geführt. Die doppelte Staatsangehörigkeit wird verurteilt: es fehle an Loyalität zu Deutschland. Auch kommt es viel zu Diskussionen über die als nicht ausreichend erachteten Deutschkenntnisse, es wird negativ über Shisha-Bars gesprochen, die vielen migrantischen Menschen als „Safe Space“ dienen.
Fehlende Aufarbeitung
Schon lange haben mittlerweile deutsche Polizeibeamt*innen und Lehrer*innen auch türkische Namen, Tatort-Kommissar*innen und Abgeordnete stammen aus Familien mit türkischer Migrationsgeschichte. In den Medien sind immer mehr Menschen zu sehen, die die kulturelle Vielfalt der deutschen Gesellschaft repräsentieren. Trotzdem besteht eine reale Bedrohung durch rassistische Mordanschläge, wie die des NSU, in Hanau und den NSU 2.0-Komplex sowie unaufgeklärte mögliche Verstrickungen der staatlichen Organe. Deportationsfantasien von Politiker*innen der AfD oder auch CDU bei dem „Potsdamer Treffen“ im vergangenen Jahr offenbaren, wie tief rassistische Vorstellungen in Teilen der politischen und gesellschaftlichen Landschaft Deutschlands verwurzelt sind.
Die über 60-jährige Geschichte der Arbeitsmigration aus der Türkei legt ein Zeugnis ab vom Leben vieler in Deutschland, das entbehrungsreich war. Die Kinder und Enkel*innen dieser ersten Arbeiter*innen-Generation sind Teil der Gesellschaft und können nun vehementer als zuvor ihre Stimme erheben. Das änderte den Diskurs der letzten Jahre um die Frage nach Identität und Teilhabe elementar.
Was bis heute fehlt: Eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Denn bis heute prägt Alltagsrassismus die Strukturen, viele Menschen sind sich dem jedoch nur bedingt bewusst. Die ehrliche Aufarbeitung der Geschichte der Arbeitsmigrant*innen in Deutschland wäre ein wichtiger Schritt für eine gleichstellungsorientierte Gesellschaft und die vielen Menschen, die Deutschland mit zu dem gemacht haben, was es heute ist.