Kriminalität in Erfurt: „96 Prozent der Ausländer fallen nicht mit Straftaten auf“

Von Friedemann Mertin

 

Hautfarbe und Herkunft eines Menschen sagen nichts über dessen kriminelle Energie aus. Kriminalität ist das Ergebnis von Erfahrungen und aktuellen Lebensumständen (Symbolbild).

Hautfarbe und Herkunft eines Menschen sagen nichts über dessen kriminelle Energie aus. Kriminalität ist das Ergebnis von Erfahrungen und aktuellen Lebensumständen (Symbolbild).

 

Erfurt. Vorfälle mit Migranten auf dem Erfurter Anger und jüngst am Hauptbahnhof sorgen für Aufsehen. Der Kriminologe Christian Walburg ordnet sie ein und tritt pauschalen Urteilen entgegen.

Der verhältnismäßig hohe Anteil ausländischer Tatverdächtiger in der Erfurter Kriminalstatistik wirft Fragen auf. Diese stellen wir Christian Walburg, Kriminologe an der Universität Münster. Der 46-Jährige beschäftigt sich mit der Kriminalität von Nicht-Deutschen und der Aussagekraft von polizeilichen Statistiken.

Herr Walburg, in der Kriminalstatistik der Erfurter Polizei machen Ausländer ein Drittel aller Tatverdächtigen aus, obwohl sie nur elf Prozent der Bevölkerung stellen. Die pauschale Schlussfolgerung wäre nun, dass Ausländer krimineller als Deutsche sind. Kann man das so stehen lassen?

Nein, diese Pauschalisierung ist falsch. Zunächst einmal stimmt es, dass der Anteil von Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit unter den Tatverdächtigen höher ist. Zugleich ist es aber so, dass unter den Ausländern, die in Deutschland leben, nur ein geringer Teil straffällig wird. Dieser Zweischritt ist wichtig, um die Zahlen einzuordnen. Die allermeisten Ausländer haben genauso wenig mit Straftaten zu tun wie Deutsche.

Christian Walburg ist Kriminologe an der Universität Münster.

Christian Walburg ist Kriminologe an der Universität Münster

 

Die Erfurter Statistik entspricht in etwa den Verhältnissen auf Bundesebene. Insofern ist die Situation hier ähnlich der in anderen Städten, oder?

Ja, man kann das an Zahlen verdeutlichen. Es gibt in der Gesellschaft nur einen kleinen Teil Menschen, die straffällig werden. Bundesweit und auch in den einzelnen Bundesländern ist es so, dass jährlich etwa zwei Prozent der deutschen Bevölkerung bei der Polizei als tatverdächtig registriert wird und etwa vier Prozent der ausländischen Bevölkerung. Ja, das ist doppelt so viel, das lässt sich nicht bestreiten. Umgekehrt heißt das aber auch, dass 96 Prozent der Ausländer nicht mit Straftaten auffallen.

Aber weshalb werden Nicht-Deutsche häufiger polizeilich auffällig als Deutsche?

Es ist nicht leicht, das auf eine Formel zu bringen. Das Feld der Kriminalität ist komplex, von der Steuerhinterziehung über häusliche Gewalt bis hin zu Gewalt auf der Straße. Geflüchtete begehen kaum Steuerhinterziehung, sind aber an Straßenkriminalität häufiger beteiligt. Zudem sind die bei uns lebenden Ausländer keine einheitliche Gruppe. Sie haben unterschiedliche Hintergründe und Lebenslagen. Es gibt Geflüchtete, die neu ins Land gekommen sind und Menschen, die schon in der dritten Generation hier leben. Da muss man sehr genau unterscheiden. Und schließlich gibt es ohnehin nicht die eine Ursache für Kriminalität.

Also gibt es keine einfache Antwort auf die Frage?

Man kann es etwas vereinfacht sagen: Unter der ausländischen Bevölkerung ist ein höherer Anteil in einer kriminalitätsfördernden Lebenslage. Und mehr Menschen haben in ihrem Leben Erfahrungen gemacht, die Kriminalität begünstigen. Kriminalität ist immer das Ergebnis von Erfahrungen und den aktuellen Umständen. Allgemein gesprochen ist dieses Zusammenspiel bei Ausländern ungünstiger als bei Deutschen. Die einheimische Bevölkerung wiederum ist häufiger in stabilen Verhältnissen aufgewachsen als Zugewanderte, die sich erstmal zurechtfinden müssen.

Welche Erfahrungen sind das konkret?

Gerade bei Geflüchteten haben manche vorher schon Gewalt erlebt. Das erhöht das Risiko, selbst gewalttätig zu werden. Das sind Erlebnisse, die die meisten Deutschen so zum Glück nicht haben. Wenn wir auf die Flüchtlinge aus dem Zuzug von 2015 schauen, waren das oft junge Menschen, die auf eigene Faust, ohne Familie, ohne soziale Bindungen gekommen sind. Sie sind auf sich gestellt, in einer Lebensphase, die ohnehin sensibel ist.

Dass man in der Jugend anfälliger für Kriminalität ist und Grenzen austestet, gilt für das Leben jedes Menschen.

Richtig. Die Kriminalitätsraten sind bei Menschen zwischen 15 und 25 Jahren am höchsten. Da müssen sie selbstständig werden, lernen, was richtig und falsch ist, eigene Entscheidungen treffen. Sie sind in einer Phase der Persönlichkeitsentwicklung, suchen ihren Platz in der Gesellschaft. Und das ist schwieriger, wenn man auf eigene Faust in ein fremdes Land kommt und kein stützendes Umfeld hat. Dass das höhere Risiken für kriminelles Verhalten mit sich bringt, ist ein Teil der Erklärung. Viele bewältigen das gut, manche haben größere Schwierigkeiten. Man kann aber auch erkennen, dass das Kriminalitätsrisiko zurückgeht, wenn die Menschen Fuß fassen und zum Beispiel arbeiten gehen können.

Im vergangenen Jahr gab es wiederholt Auseinandersetzungen von Migranten auf dem Erfurter Anger. Das sorgt für Aufsehen, trägt zu einem Gefühl der Unsicherheit bei und bestärkt manches Vorurteil.

Das ist ungünstig, klar. Zugewanderte junge Männer halten sich vermehrt im öffentlichen Raum auf, weil sie wenig andere Möglichkeiten haben. Dort fallen sie auf. Flüchtlingsunterkünfte sind schwierige Orte, sie begünstigen Gewalt. Viele Menschen hängen eng aufeinander, ohne Aufgabe, mit wenig strukturiertem Tagesablauf. Aus Langeweile und Frust kann es zu Auseinandersetzungen kommen. Das hat erstmal nichts mit der Herkunft zu tun. Treffen junge Männer im öffentlichen Raum aufeinander, kann sich das zuweilen hochschaukeln, zumal wenn sie sozial wenig eingebunden sind.

Die Staatsangehörigkeit ist zur Erklärung von Kriminalität unwesentlich.

Christian Walburg - Kriminologe der Universität Münster

Gehen wir einen Schritt zurück: Warum wird von der Polizei überhaupt zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen unterschieden? Wird damit nicht per se der Eindruck einer Andersartigkeit geweckt?

Das hängt zunächst damit zusammen, dass die Polizei bei Ausländern eventuell anders agieren muss, weil ausländerrechtliche Fragen zu klären sind – etwa der Aufenthaltsstatus. Die Nationalität zu erfassen, gehört zur Routine. Ob die Herkunft tatsächlich in der Statistik landen muss, darüber kann man streiten. Ich bin eher der Auffassung, damit offen umzugehen. Denn diese Informationen zurückzuhalten, führt im Zweifel zu noch mehr vagen Mutmaßungen. Das Problem ist aber, dass durch die Nennung der Eindruck entstehen kann, dass die Staatsangehörigkeit als solche zur Erklärung der Kriminalität wesentlich ist. Das ist nicht der Fall. Relevantere Faktoren wie die soziale Lage sind in der Kriminalstatistik hingegen nicht enthalten.

Häufig wird der Polizei vorgeworfen, dass sie Menschen, die ausländisch aussehen, eher kontrolliert als Einheimische. Gibt es dazu objektive Erhebungen?

Diese Frage beschäftigt die Kriminologie seit langem. Wie kann man Kriminalität überhaupt messen? Die Polizeistatistik zeigt nur einen Ausschnitt, vieles bleibt im Dunkeln. Gerade die Erfassung der Gewaltdelikte beruht nicht so sehr auf aktiven Polizeikontrollen, sondern auf den Anzeigen von Opfern und Zeugen. Hier gibt es statistische Verzerrungen. Menschen gehen bei Übergriffen von jemandem, den sie als fremd wahrnehmen, eher zur Polizei als bei jemandem, den sie kennen. Dieser Typ aus der Nachbarschaft, der ist eben ein bisschen schwierig und rastet ab und zu aus, den weiß man zu nehmen. Gegenüber einem Unbekannten ist die Neigung zur Anzeige höher. Das ist kein moralischer Vorwurf, sondern allgemein so.

Zurück zum Verhalten der Polizei.

Ungefähr zehn Prozent der Taten werden durch Polizeikontrollen entdeckt, Drogendelikte etwa. Es gibt Studien, die zeigen, dass für Angehörige von Minderheiten das Risiko, kontrolliert zu werden, etwas höher ist. An den Vorwürfen ist also etwas dran – sie erklären aber auch nicht alles.