Erdoğans Verfassungspläne: Was bleibt von Atatürks Vermächtnis?

Artikel von Friederike Böge Von FAZ
 
 
Nein zur alten Verfassung der Türkei: Präsident Recep Tayyip Erdogan
Nein zur alten Verfassung der Türkei: Präsident Recep Tayyip Erdogan © Anad

 

Der türkische Präsident hatte sich einen symbolträchtigen Ort ausgesucht, um sein Plädoyer für eine neue Verfassung vorzutragen: ein früheres Gefängnis und heutiges Museum in Ankara, das an die Opfer des Militärputsches von 1980 erinnert. „Wir sollten uns aus dem Schatten der Putschverfassung befreien. Das allein ist Rechtfertigung genug für die Bemühungen um eine neue Verfassung“, sagte Recep Tayyip Erdoğan Anfang der Woche.

Die bis heute gültige, aber mehrfach grundlegend reformierte Verfassung von 1982 war unter der Aufsicht des Militärs erarbeitet worden. Wie gewohnt wählte der Präsident große Worte. Es gehe um „das Überleben des Staates“, um Freiheit und Bürgerrechte und darum, „künftigen Generationen ein bedeutendes Erbe zu hinterlassen“. Was in der Verfassung stehen soll, sagte er aber nicht.

„Wir wissen gar nicht, was Herr Erdoğan ändern will“

„Das ist ein neues Spielzeug des Präsidenten, um vor der Kommunalwahl im März Streit zu stiften“, meint Naci Cinisli, stellvertretender Parteichef der oppositionellen Iyi-Partei. Die Stimmen der Iyi-Partei brauchte Erdoğan, um die nötige Mehrheit für ein Verfassungsreferendum zusammenzubringen. Doch eine Kontaktaufnahme in dieser Sache hat es laut Cinisli bisher nicht gegeben. „Wir wissen gar nicht, was Herr Erdoğan ändern will.“ Zwei Änderungsvorschläge hat der Präsident bei früheren Anlässen genannt: Er wolle in der Verfassung „ein für alle Mal“ das Recht zum Tragen eines Kopftuchs verankern. Und er wolle „den Schutz der Familie“ stärken.

Das Kopftuchthema hatte vor den Präsidentenwahlen ursprünglich Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP) auf die Tagesordnung gesetzt. Er hatte ein Gesetz vorgeschlagen, das das Recht zum Tragen eines Kopftuchs verbrieft. So wollte Kılıçdaroğlu das Vertrauen konservativer Wähler in Anatolien gewinnen, die die CHP noch immer mit den früheren Kopftuchverboten an Universitäten und im öffentlichen Dienst in Verbindung bringen. Stattdessen geriet der Vorstoß zur Steilvorlage für Erdoğan, der die CHP nun mit dem Vorschlag einer Verfassungsänderung vor sich hertreiben kann.

So sieht es auch Naci Cinisli von der Iyi-Partei im Gespräch mit der F.A.Z. „Die Türkei hat das Kopftuchthema längst vergessen. Herr Kılıçdaroğlu hat ein gelöstes Problem ohne Not wieder auf die Agenda gebracht.“ 2010 war das Kopftuchverbot an Universitäten abgeschafft worden, 2013 im öffentlichen Dienst. Wenn sich die CHP gegen die Verfassungsänderung ausspricht, würde das der Regierungspartei vor den Kommunalwahlen im März in die Hände spielen. So könnte Erdoğan der CHP die Kontrolle über die wichtigste Stadt des Landes, Istanbul, entreißen. Zugleich könnte er die Verfassungsdebatte nutzen, um die Opposition weiter zu spalten. Die Iyi-Partei war bei den Präsidentenwahlen im Mai noch in einem Bündnis mit der CHP angetreten. Bei den Kommunalwahlen will sie nun eigene Wege gehen.

Geht es um eine unbegrenzte Amtszeit?

Beim „Schutz der Familie“, den der Präsident stärker in der Verfassung verankern will, geht es vorrangig um den Kulturkampf gegen die LGBTQ-Community, mit dem Erdoğan seine islamistischen Bündnispartner bei der Stange hält und eigene konservative Wähler bedient. Auch dieses Thema eignet sich, um die CHP in die Enge zu treiben. Denn einerseits verorten sich die meisten queerfreundlichen Wähler bei der CHP. Andererseits ist eine deutliche Mehrheit der Türken bei dem Thema konservativ eingestellt. Aus diesem Grund hatte Erdoğan sich schon im letzten Wahlkampf mit Anti-LGBT-Rhetorik profiliert.

Jenseits solcher Partikularthemen werden in Ankara hinter vorgehaltener Hand noch andere Vermutungen geäußert, was Erdoğan mit einer neuen Verfassung bezwecken könnte. Bei der nächsten Präsidentenwahl darf er regulär nicht mehr antreten. Womöglich strebe er an, diese Amtszeitbeschränkung zu streichen, heißt es.

Äußerungen in diese Richtung hat Erdoğan bisher nicht getan. Im Jahr 2017 hatte er mithilfe einer Verfassungsänderung ein Präsidialsystem eingeführt, das alle Macht in seinen Händen konzentrierte. Damals reichten ihm noch die Stimmen seiner Regierungskoalition, um ein Referendum abzuhalten, das er unter höchst fragwürdigen Bedingungen mit knapper Mehrheit für sich entschied. Für die Verabschiedung einer neuen Verfassung wären 400 Stimmen nötig. Das ist kaum zu erreichen, denn das Regierungsbündnis hat nur 323 Sitze. Eher denkbar wäre eine weitere Volksabstimmung, der mindestens 360 Abgeordnete zustimmen müssten. Dafür müsste es dem Regierungslager gelingen, die Iyi-Partei mit 43 Sitzen auf seine Seite zu ziehen.

Dort hegt man noch einen anderen Verdacht, was der Präsident mit einer neuen Verfassung bezwecken könnte, nämlich den Laizismus und den „Nationalismus Atatürks“ zu streichen, der in der jetzigen Verfassung unabänderlich festgeschrieben ist. Parteivize Cinisli sagt dazu: „Wenn sie die ersten vier Artikel antasten, brauchen wir den Rest der Verfassung gar nicht zu sehen.“

Die mit Erdoğans Regierungspartei verbündete islamistische Hüda-Par hat angekündigt, nach der Eröffnung des Parlaments im Oktober über eben diese vier Verfassungsartikel sprechen zu wollen. Dabei besagt Artikel 4, dass schon „das Einbringen eines Änderungsvorschlags“ zu den Artikeln 1 bis 3 „unzulässig“ sei. Die Hüda-Par ist eine Splitterpartei mit nur vier Sitzen. Doch die emotional aufgeladene Debatte dürfte von den wirtschaftlichen Problemen des Landes ­ablenken. Das wäre wohl in Erdoğans Sinne.