Wagenknechts Spiel: Welche Chancen ihre eigene Partei hätte

 

 

Sahra Wagenknecht liebäugelt mit einer eigenen Partei und nimmt eine Schwächung der Linken in Kauf. Welche Chance hätte eine Neugründung? Eine Analyse.

Vielleicht reicht ein Zugpferd wie Sahra Wagenknecht, um ihre neue Partei in einem Jahr ins Europaparlament zu bringen, selbst wenn diese Partei heute noch gar nicht gegründet ist. Unwahrscheinlich ist das keineswegs, falls sich die langjährige Linken-Politikerin dazu entschließt, ihrer

isherigen Partei Konkurrenz zu machen – und danach sieht es aus.

Wer weiß schon, dass auch die Piraten, die Familienpartei und Volt bei der Europawahl 2019 Sitze im Europäischen Parlament geholt haben, mit jeweils nur 0,7 Prozent der Stimmen in Deutschland. Den Piraten genügte es, dass 243.000 Menschen für sie votierten, für Volt waren es kaum mehr, für die Familienpartei 273.000.

Sahra Wagenknecht, die unzufriedene Linke aus den Talkshows.

Diese Zahl dürfte keine hohe Hürde darstellen für Wagenknecht, die unzufriedene Linke aus den Talkshows. Ihre bisherige Partei holte 2019 rund zwei Millionen Stimmen in der Bundesrepublik und damit einen Anteil von 5,5 Prozent. Doch selbst wenn die Linke und eine neue Konkurrenzpartei von Sahra Wagenknecht bei der Europawahl unter fünf Prozent landen sollten, was nach derzeitigem Stand als wahrscheinlich gelten muss, wäre das kein Hinderungsgrund für den Einzug ins Parlament. Auf europäischer Ebene gibt es nämlich keine Fünf-Prozent-Hürde.

Das hätte für Wagenknecht zwei Vorteile: Zum einen könnte sie selbst ins Parlament einziehen. Zum anderen könnte ihr niemand vorwerfen, sie habe dazu beigetragen, die Linkspartei aus dem EU-Parlament zu kegeln. Nicht schlecht, um wankende Anhänger:innen der Linken, denen es um ihre bisherige Partei leid tut, zur Stimmabgabe für die neue Konkurrenz zu bewegen.

Bei Bundestags- und Landtagswahlen sieht das natürlich ganz anders aus. Hier könnte eine Wagenknecht-Partei der Linken den Todesstoß versetzen. Auch die Chancen für ihre neue Partei stünden nicht allzu gut, wenn diese Partei die Fünf-Prozent-Hürde nehmen muss. Doch wer weiß, ob das Wagenknecht wirklich stört. Sie hat noch nie als Teamplayerin gegolten, und ihren eigenen Auftritt hätte sie im Europäischen Parlament sicher.

Wagenknechts kremlnahe Wortwahl ließ Fass für etliche Linke überlaufen

Wagenknecht kennt das Parlament gut, das in Straßburg und Brüssel tagt. Sie gehörte bereits fünf Jahre, von 2004 bis 2009, dem Europaparlament an. Seit 30 Jahren hat die 53-Jährige führende Funktionen in ihrer jeweiligen Partei inne, erst in der PDS, dann in der Linken. Dem Bundestag gehört sie seit 2011 an, von 2015 bis 2019 als Fraktionsvorsitzende gemeinsam mit Dietmar Bartsch.

Jahrelang hat die Linke von ihren kapitalismuskritischen Analysen profitiert, die sie verständlich und öffentlichkeitswirksam zu formulieren weiß – anders als viele in ihrer Partei. Doch spätestens mit dem Zuzug vieler geflüchteter Menschen nach Deutschland 2015 und 2016 entfernte sich Wagenknecht vom Mehrheitskurs der Partei. Die Linken-Politikerin blinkte immer wieder nach rechts und musste dafür Lob aus der in Teilen rechtsextremen AfD hinnehmen. Zuletzt ließ ihre kremlnahe Wortwahl über einen angeblichen „Wirtschaftskrieg“ des Westens gegen Russland das Fass für etliche Linke überlaufen. Viele Mitglieder, auch prominente, traten aus Protest gegen Wagenknecht aus.

Umgekehrt hatte Wagenknechts Ehemann Oskar Lafontaine, einst erfolgreicher SPD-Politiker und einer der Gründerväter der Linken, auch dieser Partei den Rücken gekehrt – kurz vor der Landtagswahl im Saarland, als die Linke dann tatsächlich aus dem Parlament flog.

Dass es unterschiedliche Strömungen und manchmal sehr kontroverse Auseinandersetzungen in der Linkspartei gibt, ist nichts Neues. Im Gegenteil: Es ist sozusagen die Gründungskonstruktion der Partei, in der sich im Jahr 2007 die gewandelte DDR-Partei PDS, die westdeutsch-gewerkschaftlich orientierte WASG und andere Linke zusammenfanden. Insbesondere die pragmatische und kompromissbereite

on Linken in Landesregierungen, etwa Bodo Ramelow in Thüringen, erzürnt die radikaleren Kräfte, zu denen Wagenknecht zählt. Die Parteigründung war eine Reaktion auf die Geschichte der Linken in Deutschland, die durch ihre erbitterte Zerstrittenheit immer wieder der Rechten den Weg ebnete.

Wagenknechts Versuch, beim Linken-Parteitag Mehrheit für ihre Position zum Ukraine-Krieg durchzusetzen, scheiterte

Nun will Wagenknecht das Rad offenbar in die andere Richtung drehen. Zunächst hat die Politikerin und Publizistin nur angekündigt, nicht erneut für die Linke anzutreten. Vielleicht werde sie eine Partei gründen, die „glaubwürdig für Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“ eintreten könne. Womöglich spielt auch die Erfahrung aus dem Herbst eine Rolle, in dem es trotz Energiekrise und Inflation weder der Linken noch der Rechten gelang, einen „Wutherbst“ gegen die Regierenden zu entfachen. „Ich möchte meine politische Laufbahn nicht mit einem Flop abschließen“, sagt Wagenknecht. Sie weiß, wovon sie spricht. Sang- und klanglos endete etwa nach wenigen Monaten im Jahr 2019 das von ihr propagierte Projekt „Aufstehen“. Ziel war es, eine soziale Massenbewegung in Gang zu setzen, die vor allem durch Mitglieder und Sympathisant:innen von SPD, Grünen und Linken getragen werden sollte. Die Orientierung an der Bewegung von Jean-Luc Mélenchon in Frankreich war deutlich.

Auch ihr Versuch, beim Linken-Parteitag in Erfurt 2022 eine Mehrheit für ihre Position zum russischen Krieg gegen die Ukraine durchzusetzen, scheiterte – und Wagenknecht, die das geahnt haben dürfte, kam gar nicht erst zu den Noch-Genossinnen und -Genossen.

Erfolgreicher ist ihr öffentliches Auftreten gegen deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine. Ihr „Manifest für Frieden“ wurde fast 800 000-mal unterzeichnet, mehrere Zehntausend Menschen kamen zur Demo nach Berlin. Auch die Publikationen der promovierten Volkswirtin tragen Früchte. Ihr Buch „Die Selbstgerechten“, in dem sie die traditionelle Linke und die „Lifestyle-Linken“ einander gegenüber stellte und den „Linksliberalismus“ geißelte, bestimmte im Wahljahr 2021 wochenlang viele Debatten und verkaufte sich gut.

Das Abwarten, das Andeuten, das öffentliche Nicht-Festlegen beherrscht Wagenknecht bestens

Aber ist das ein Zeichen dafür, dass eine neue Partei sich im deutschen Spektrum etablieren könnte? Dass sie enttäuschte Menschen anzieht, die bisher die Linke, die AfD oder gar nicht gewählt haben? Der Mainzer Wahlforscher Kai Arzheimer sagte dem Bayerischen Rundfunk, es gebe momentan „keine relevante Partei, die bei wirtschaftlichen und Verteilungsthemen links und bei gesellschaftspolitischen Themen rechts steht“. Das trifft sicher zu, sagt aber noch nichts über das Potenzial einer solchen Kraft.

Wagenknecht sagte nun im ZDF: „Ich kann mir auch eine Perspektive als Publizistin und Schriftstellerin vorstellen. Aber ich möchte gerne politisch auch noch etwas bewegen.“ Das Abwarten, das Andeuten, das öffentliche Nicht-Festlegen beherrscht die Politikerin bestens. Sie bleibt damit im Gespräch. In den nächsten Wochen wird sie sich aber entscheiden müssen. (Pitt von Bebenburg)