Erdbeben in der Türkei: Eine Katastrophe, die seit Jahrzehnten lauerte /Zeit Online
Artikel von Claudia Vallentin, Andrew Müller
Seismologen warnen in der Türkei und Syrie vor weiteren Beben. Genaue Vorhersagen sind unmöglich. Sicher ist: Der Untergrund in der Region kommt nicht zur Ruhe.
Kurz vor halb fünf in den Morgenstunden begann die Erde in und um Gaziantep zu zittern. Unzählige Häuser stürzten ein, Bewohnerinnen und Bewohner müssen zwischen Schnee und Trümmern auf Hilfe warten. Das Erdbeben erschütterte den Südosten der Türkei, den Norden Syriens und war bis in den Libanon und Israel spürbar. Seine Stärke erreichte eine Magnitude von 7,8. Wenig später folgten Erdstöße der Stärke 6,7. Und damit nicht genug: Dutzende Nachbeben in der Region halten die Suche nach Verschütteten auf und gefährden Überlebende und Rettungskräfte immer wieder von Neuem. Eines dieser Beben erreichte am frühen Nachmittag Ortszeit sogar 7,6, fast die Stärke des Hauptbebens.
Die Folgen dieser heftigen Verwerfungen sind verheerend. Mehr als 2.300 Todesopfer wurden am Nachmittag bereits gemeldet, Tausende Häuser sind eingestürzt, zahlreiche Straßen zerstört und die Energieversorgung teils eingeschränkt. Die Zahl der Toten und der Verletzten wird noch deutlich steigen. Für Seismologen kamen die Beben nicht überraschend, vorhersagen konnten sie sie trotzdem nicht.
Die Türkei zählt zu den am stärksten von Erdstößen gefährdeten Regionen der Welt. Geologisch liegt das Land auf der Anatolischen Platte, die sich im Untergrund wie eine Scholle langsam gen Westen bewegt. Dabei schrammt sie im Norden an der Eurasischen Platte vorbei, hier befindet sich auch die Haupterdbebenzone der Türkei.
Aktuell verkeilen sich gigantische Gesteinsmassen aber an der östlichen Plattengrenze, der Ostanatolischen Verwerfung. Dort schieben sich die Anatolische und die Arabische Platte aneinander vorbei. Dabei verhaken sich die festen Gesteine, es werden enorme Spannungen aufgebaut. Werden sie größer als die Festigkeit der Steine, entlädt sich die Energie sprunghaft. "In der Region haben sich die Erdplatten innerhalb von Sekunden um mehrere Meter gegeneinander verschoben", sagt der Seismologe Marco Bohnhoff vom GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ). "Und diese Fläche ist etwa 200 Kilometer lang und reicht von der Oberfläche bis in etwa 20 Kilometer Tiefe."
Seit 1.000 Jahren kein Erdbeben
Die Beben sind dieses Mal so verheerend, weil sie relativ nah an der Oberfläche stattfanden und in teils dicht besiedelten Regionen. Derart starke Erschütterungen sind eigentlich eher selten an horizontalen Verschiebungen – unerwartet kam die Katastrophe aber dennoch nicht.
"In der Türkei gibt es eine lange Zeitreihe an Erdbebenaufzeichnungen", sagt Bohnhoff. "Und an der Ostanatolischen Verwerfung ist es seit etwa 1.000 Jahren relativ ruhig. Das ist bemerkenswert und beunruhigend zugleich, weil sich über einen sehr langen Zeitraum Energie aufgestaut hat." Denn die Platten in der Tiefe bewegen sich jeden Tag.
Mit der Reihe von Erschütterungen am Montag ist die Erdbebengefahr in der Region aber nun keineswegs vorüber. Im Gegenteil, sie hat sich erst einmal weiter erhöht, sagt Bohnhoff. Denn durch das erste Beben haben sich Spannungen entlang der Plattengrenze verlagert. An anderer Stelle kann aktuell ein ebenso kritischer Punkt überschritten werden und den Erdboden durchschütteln. Gerade die äußerst heftigen Beben, nur neun Stunden nach den ersten und etwas entfernt entlang der gleichen Verwerfung, die eine Magnitude von 7,6 und 6,7 erreichten, könnten durch so eine Verlagerung entstanden sein.
Solche Nachbeben sind besonders gefährlich, selbst wenn sie etwas geringere Magnituden haben. Derzeit reicht womöglich ein mittelstarkes Erdbeben, um weitere große Schäden zu verursachen und bereits entstandene noch drastisch zu verschlimmern. Den Menschen vor Ort bleibt im Zweifel kaum Zeit, sich selbst und Vermisste sowie Verschüttete zu retten und zu bergen. Die Einsatzkräfte arbeiten in einer äußerst angespannten Lage.
Das Ausmaß der Zerstörung dieser Beben, die am Montagfrüh begannen, als die meisten Menschen vermutlich noch schliefen, sind noch längst nicht absehbar. Schon jetzt deuten die ersten Berichte aus den betroffenen Regionen auf immense Schäden hin.
Die Gefahr, mit der die Menschen in der Region leben, ist nicht neu, gerät aber nach Jahren oder Jahrzehnten der vermeintlichen Ruhe im Untergrund oft in Vergessenheit. Die Türkei veröffentlicht
selbst Erdbebengefahren-Karten. Im In- und Ausland wird dazu viel geforscht. Genau vorhersagen kann die Erschütterungen dennoch niemand.
Zwar gibt es für jede Erdbebenregion Muster, die Seismologinnen in historischen Aufzeichnungsdaten erkennen und so für die Zukunft lernen können. Aber sie sind nicht immer gleich. In der Region Istanbul erschüttert etwa alle 250 Jahre ein großes Grollen die Erde, manchmal sind es aber nur 200 Jahre, die verstreichen, ein anderes mal 300. "Statistisch gesehen liegen wir dort mit 263 Jahren seit dem letzten Beben über der Erwartung", sagt Bohnhoff. Forschende nennen solche Muster seismologische Zyklen. Je länger kein Erdbeben in einer spannungsgeladenen Region stattgefunden hat, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Erde sich bald entlädt. "Ob das aber morgen oder in zehn Jahren ist, können wir trotz historischer Daten und Messungen vor Ort nicht sagen."
Maximal 20 Sekunden bis zur Katastrophe
Für die Region Istanbul haben Expertinnen und Forscher dennoch eine Art Frühwarnsystem entwickelt und arbeiten kontinuierlich daran, es zu verbessern. Dabei geht es zwar nicht darum, Erdbeben zeitlich präzise vorherzusagen, sondern mit Messungen entlang der geologischen Verwerfungen frühzeitig Spannungen zu erkennen und damit einige der schlimmsten Folgen zu verhindern.
Denn Erdbeben lösen zwei Arten von Wellenbewegungen aus: Druckwellen, auch Primärwellen genannt, und sekundäre Scherwellen. Letztere versetzen den Untergrund schlagartig in Bewegung und sorgen für die Zerstörung. Zwischen beiden Wellentypen liegen nur wenige Sekunden, im besten Falle gewinnt man mit einer Früherkennung vielleicht einen Vorsprung von 20 Sekunden. Doch selbst die könnten reichen, um Menschenleben zu retten, indem Kraftwerke Gasleitungen schließen , automatische Ampelschaltungen die Zufahrt zu Brücken sperren oder Hochgeschwindigkeitszüge gestoppt werden. Denn nicht nur das Beben selbst ist gefährlich, sondern vor allem auch Nachwirkungen wie Feuer oder einstürzende Gebäude und Infrastruktur.
Tatsächlich arbeiten Forscherinnen und Forscher der Universität des 9. September in Izmir an einem landesweiten System. Ende des Monats sollte es nach bisherigen Plänen starten. Wie dringend es ist, zeigt die heutige Katastrophe.
Ob mit oder ohne minimale Vorwarnung: Letztlich ist der beste Schutz vor Beben sicheres Bauen. Das von Erdstößen an Land und vor der Küste stark betroffene Japan hat in den vergangenen Jahrzehnten viel Geld investiert in Häuser, die auch heftigen Erschütterungen standhalten können sowie in Frühwarnsysteme für Tsunamis, die nach Verwerfungen im Ozean entstehen.
Städte so zu bauen, dass Menschen den Verschiebungen tief unter ihnen nicht schutzlos ausgeliefert sind, ist möglich, aber teuer. Leichte Bauweisen, die Verformungen zulassen und Schwankungen abfedern, Gebäude mit einem möglichst nah am Grund gelegenen Schwerpunkt oder auch dämpfende Gummilager zwischen den Etagen sind nur einige Beispiele. In Istanbul gibt es schon seit vielen Jahren Pläne, die Stadt erdbebensicherer zu machen, neue Häuser entsprechend zu bauen und alte nachzurüsten. Ob die Millionenstadt damit noch schneller als das nächste Erdbeben sein kann, ist ungewiss.