Sieben Jahre Istanbul-Konvention: Wenn Familie und Ehre mehr zählen als das Leben einer Frau
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dtj-online
2014 traten die Regelungen der Istanbul-Konvention in der Türkei in Kraft. Damit verpflichtete sich das Land auf allen staatlichen Ebenen, alles dafür zu tun, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen und Betroffenen Schutz und Unterstützung zu bieten. Schafft die Türkei das?
Zunächst zeigte diese Regelung ihre Wirkung, doch schon seit 2015 steigt die Gewalt gegen Frauen in der Türkei wieder an. Waren es vor sechs Jahren noch etwa 300 Fälle im Jahr, waren es 2019 mehr als 470 Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich noch deutlich höher, da viele Fälle überhaupt nicht angezeigt werden. Betroffene wollen sich oft selbst und ihre Familien schützen, oder sie suchen den Fehler bei sich und reden sich ein, sie hätten die „Strafe“ verdient.
Der Gedanke, häusliche Gewalt sei „tolerierbar“, ist fatal
Der Ansatz, häusliche Gewalt sei ein tolerierbarer oder sogar notwendiger Teil der Ehe, ist fatal. Oft werden Frauen, die Hilfe brauchen, nicht ernst genommen. Laut der Hilfsorganisation Amnesty International wurden allein im Juni letzten Jahres 20 Frauen von Männern getötet.
Aktivist:innen wie die Frauenrechtlerin Melek Önder sind entsetzt: „Seit Jahren sehen wir diese Morde an Frauen, 20, 25, 30 Frauen, jeden Monat. Es gab auch schon mal 50 Morde in einem Monat. Was das für Zahlen sind, über die wir hier reden!“ Doch häufig scheinen die türkischen Behörden wegzuschauen, denn häusliche Gewalt gehört zur traurigen Normalität und wird von vielen Türk:innen beinahe systematisch toleriert und verharmlost.
Trotz scharfer Gesetzeslage kann von Behördenversagen gesprochen werden
Es gibt durchaus abschreckende Gesetze, die in Folge der Istanbul-Konvention entstanden sind, doch die Realität weicht stark von den Gesetzestexten ab. „Unser größtes Problem ist die Kluft zwischen juristischer und gesellschaftlicher Realität„, sagt die Anwältin Evrim Inan. Doch obwohl die konsequente Umsetzung bestehender Gesetze schon ein großer Schritt in die richtige Richtung wäre, gibt es in der Türkei auch noch viel an der Rechtslage der Frau zu verbessern. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der IBRD, eine Untergruppe der Weltbank. Die Türkei liegt, die rein gesetzliche Gleichberechtigungssituation von Männern und Frauen betrachtet, auf dem 85. Platz (von 187 erfassten Ländern).
Im Vergleich: Deutschland auf Platz 31
Die Fahrlässigkeit der Behörden zeigt schließlich ihre schockierenden Auswirkungen. Die 45-jährige Ayşe Tuba Arslan ging 23 Mal zur Polizei, um ihren gewalttätigen Ehemann anzuzeigen. Sie hatte Angst, er könne ihr etwas antun, doch die Beamten nahmen sie nicht ernst, reagierten nicht. Die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens wurde wenig später allen bewusst, als die Frau brutal von eben diesem Mann erstochen wurde.
Das tragische Schicksal von Arslan ist kein Einzelfall. „Im März, April und Mai 2020 haben wir 55 Prozent mehr Hilferufe registriert. Zwischen dem 1. und 10. Juni wurde landesweit jeden Tag eine Frau ermordet. Und die Gesamtzahlen für den Juni liegen bei 27 Morden und 23 weiteren Frauen, die unter dubiosen Umständen ums Leben kamen“, so Melek Önder.
Die meisten Opfer ziehen es vor zu schweigen
Und obwohl sich die Fallzahlen der Gewalttaten immer stärker häufen und immer mehr Frauen sterben, bleiben die meisten Opfer still, denn sie fürchten nicht nur um den Ruf und die Ehre ihrer Familien, sondern auch um ihr eigenes Leben.
„Aleyna sagte, ‚Mama, nimm das zurück. Bayram wird mich töten.‘ Ich sagte, ‚Nein, meine Tochter, ich werde das nicht zurückziehen. Es gibt doch Gesetze‘“, berichtet die Mutter der 2017 ermordeten Aleyna Can, die eine Verfügung gegen den gewalttätigen Ex-Freund ihrer Tochter erwirkte. Schließlich traf sich die junge Frau mit ihrem Ex-Freund Bayram zu einer Aussprache. Das Treffen fand in einer Mietwohnung statt, gemeinsam mit Bayrams Bruder und einem Freund, Mesut Vural. Am Ende des Tages wurde ihr mit Spermaspuren bedeckter, lebloser Körper mit einer Schusswunde am Kopf gefunden.
Strafmaß oft zu gering
Sie hatte Drogen im Blut. Geschossen hatte Mesut, der behauptete, der Schuss habe sich versehentlich gelöst. Er bekam eine siebeneinhalbjährige Haftstrafe, Bayram und sein Bruder wurden nicht bestraft. Eine viel zu geringe Strafe, die Männer nicht davon abhalte, sich an Frauen zu vergreifen, sind sich Aktivist:innen sicher.
Doch die Gefängnisse sind überfüllt und die Corona-Pandemie beschäftigt die Behörden anderweitig, sodass ein Amnestie-Gesetz in Kraft getreten ist. Dieses Gesetz erlaubt die frühzeitige Entlassung von Straftätern, die kein Kapitalverbrechen begangen haben. Da die Erschießung von Aleyna Can als Unfall behandelt wurde, ist Mesut Vural nun wieder auf freiem Fuß – nach nur einem Jahr Haft. Die Mutter der jungen Frau ist fassungslos. Trotzdem fand der Fall kaum Beachtung bei türkischen Entscheidungsträgern.
Weltfrauentag soll auf bestehende Probleme aufmerksam machen
Der gestrige Internationale Weltfrauentag soll auf Fälle wie diese aufmerksam machen, denn die Sicherheit und Rechte der Frauen sollen nicht wegen der Corona-Pandemie vernachlässigt werden. Deshalb stand der diesjährige Weltfrauentag unter dem Motto: „Women in leadership: Achieving an equal future in a COVID-19 world“. Zu Deutsch bedeutet das „Frauen in Führungspositionen: Für eine ebenbürtige Zukunft in einer COVID-19-Welt“. Die Kernaussage, die dahintersteckt, ermahnt uns, die Frauenrechte und den Kampf darum während der Pandemie nicht aufzugeben. Im Gegenteil, die strukturellen Änderungen aufgrund der Corona-Krise sollen als Basis genutzt werden, um darauf eine gleichberechtigte(re) Welt aufzubauen.
Steigende Fallzahlen werden ignoriert
Viele tragische Vergehen an Frauen werden als Einzelfälle abgetan und die besorgniserregende Entwicklung der Fallzahlen von den obersten Instanzen ignoriert. Stattdessen wird sogar darüber debattiert, die Istanbul-Konvention, in der grundlegende Frauenrechte manifestiert sind, zu ignorieren und zu einem alten Gesetz zurückzukehren. Dieses Gesetz sieht unter anderem vor, Vergewaltigern ihre Strafe zu erlassen, wenn sie bereit sind, das Opfer im Anschluss an die Tat zu heiraten (!). Dieser Rückschritt in punkto Frauenrechte lässt Aktivist:innen aufschreien.
Erdoğan-Tochter gegen Austritt aus der Istanbul-Konvention
Auch die islamisch-konservative Frauenorganisation Kadem, der auch Sümeyye Erdoğan, Tochter des Präsidenten, angehört, positioniert sich gegen den Austritt aus der Konvention. „Die Istanbul-Konvention bietet Frauen Schutz vor Gewalt. Die Diskriminierungen, denen sie aufgrund ungleicher Machtverhältnisse ausgesetzt sind, sind mit menschlichen und moralischen Werten unvereinbar und erfordern besonderen Schutz.“ Trotz dieser klaren Worte und vielen Protesten schien die Problematik für die Regierungsebene lange Zeit nicht ersichtlich zu sein.
Pınar Gültekin sollte mit Benzin übergossen und verbrannt werden
Der brutale Mord an der 27-jährigen Studentin Pınar Gültekin rüttelte im vergangenen Jahr schließlich die Öffentlichkeit auf. Ihr Freund wollte laut eigenen Aussagen mit ihr Schluss machen, doch als das Gespräch in einem Streit ausartete, schlug er sie zu Boden und erwürgte sie. Er übergoss ihre Leiche mit Benzin und versuchte daraufhin, sie zu verbrennen, scheiterte dabei aber. Deshalb verstaute er sie in eine Tonne, die er anschließend einbetonierte. Diese unmenschliche wie widerliche Tat rief viele Proteste hervor und eine große Debatte, an der sich Medien aus ganz Europa beteiligten. Sie bewegte sogar Erdoğan zu einem aussagekräftigen Statement, welches er auf Twitter veröffentlichte: „Ich verfluche jedes Verbrechen, das gegen eine Frau begangen wird. Um die Gewalt gegen Frauen zu beenden, werden wir als Türkische Republik alles in unserer Macht Stehende tun.“
Diese Worte haben große Hoffnungen in der türkischen Bevölkerung geweckt – auch darauf, dass es keinen Austritt aus der Istanbul-Konvention geben wird. Die Empörung über Gewalttaten wie diese sind die treibende Kraft hinter der Gesellschaft, denn nur ein starker Wille in der Bevölkerung kann zu einer ernsthaften, langfristigen Veränderung führen. Auch und vor allem Männer müssen sich dafür engagieren.
Der Weltfrauentag soll ein Symbol für alle Frauen sein. Dass sie mit ihrem Leiden und der Unterdrückung nicht allein sind. Dass die Frauen, die sowohl rechtlich, als auch menschlich gut behandelt werden und sorgenfrei leben, solidarisch hinter jenen stehen, denen diese Rechte verwehrt werden. Dass sie ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit nicht aufgeben sollen. Denn die Wertschätzung einer Frau steht niemals im Widerspruch mit einer Religion oder der Ehre. Sie sollte unter allen Umständen gewehrt werden.
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