Einwanderinnen- und Einwandererfamilien

Türkische Familien leben seit einem halben Jahrhundert in der Bundesrepublik Deutschland. Innerhalb dieser Familien lebt heute die vierte Generation und die hier Geborenen sind in diese Gesellschaft sozialisiert. Sie sind hier in den Kindergarten gegangen, haben Schulen besucht und eventuell auch eine Universität. Sie sind schon längst ein untrennbarer Bestandteil dieser Gesellschaft geworden.

Trotzdem gibt es Fälle von Zwangsheirat. Es sollte sie nicht geben, denn jeder Mensch, gleichgültig ob Frau oder Mann, sollte den Lebenspartner selbst wählen können.

Jegliche Gewalt, die die körperliche Unversehrtheit des Menschen beeinträchtigt und die ausgeübt wird, um ein selbstbestimmtes Leben zu verhindern, ist zu kritisieren und zu verurteilen.

Wenn die Familien für Söhne oder Töchter eine Braut oder einen Bräutigam suchen und sie gegen ihren Willen oder gegen den Willen eines der beiden Ausgesuchten verheiraten, wird dies Zwangsheirat genannt. Gerade Urlaubszeiten werden bei manchen türkischen und kurdischen Familien für diese „Partnervermittlung“ genutzt, die übrigens bis vor hundert Jahren auch in Deutschland nicht fremd war.

Die Entwicklung einer Gesellschaft lässt sich unter anderem verstehen mit Blick auf zentrale sozioökonomische Entwicklungen, mit Blick auf dominante Gruppeninteressen und mit Blick auf sozial- und individualpsychologisch relevante Traditionen.

Wenn man das Verhalten bestimmter Gruppen in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit verstehen will, so ist das nicht möglich, wenn man ein Merkmal isoliert betrachtet und alle weiteren Bezüge unbeachtet lässt.

Einige Autoren schreiben über Einwanderinnen und Einwanderer wie über Versuchs-kaninchen, die sich manchmal artig und manchmal unartig verhalten.

Die Aufnahmegesellschaft, die Bundesrepublik Deutschland, ist eine hoch entwickelte Industriegesellschaft, die Türkei, die die Einwanderinnen und Einwanderer verließen, war das nicht. Entwicklung benötigt Zeit. Diese Feststellung sollte aber nicht auf Kosten der jungen Frau oder des jungen Mannes gehen, die gegen ihren Willen verheiratet werden sollen, sie sollte nur die Arbeit des Verstehens begleiten, die erledigt werden muss, wenn verschiedene Welten und unterschiedliche Zeiten sich begegnen.

Die Leserschaft wird nicht angemessen informiert, wenn hauptsächlich über bestimmte - negativ bewertete – Einstellungen und Verhaltensweisen der Migranten berichtet wird und wenn positive Entwicklungen nicht gewürdigt werden.

Im Umgang mit Minderheiten ist diese Art einseitiger Berichterstattung gefährlich, da auf diese Weise oft Sündenböcke hergerichtet werden, die in kritischen Situationen für alle möglichen Übel verantwortlich gemacht werden können.

Sowohl die Aufnahmegesellschaft als auch die Situation der Migrantenfamilien hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr verändert. Es gibt heute keine „Gastarbeiter-Familien“ mehr in Deutschland. Innerhalb der Familien der Einwanderinnen und Einwanderer leben viele MitbürgerInnen, die in dieser Gesellschaft aufgewachsen sind. Tradierte Einstellungen und Verhaltensweisen ändern sich nicht von heute auf morgen, in vielen Fällen wechseln diese Einstellungen und Verhaltenweisen erst mit dem Wechsel der Generationen.  

Nebenbei bemerkt: Es gibt inzwischen so viele Internetseiten, auf welchen Frauen und Männer aus Migrantenfamilien Freundschaft oder Liebe suchen, dass man davon ausgehen kann, dass die Bedeutung der Familie und ihr Einfluss in diesen Angelegen-heiten stetig nachlässt.