Wie Ehrgewalt bei Migranten verhindern werden soll

Artikel von Theresa Weiß  fAZ

Nicht lustig: Zwei Teilnehmer des Kurses stellen Gewalt dar. Sich auf die theaterpädagogischen Methoden einzulassen, ist herausfordernd.

Nicht lustig: Zwei Teilnehmer des Kurses stellen Gewalt dar. Sich auf die theaterpädagogischen Methoden einzulassen, ist herausfordernd. © Anton Veste

rgendwann rastet er aus. Die Wohnung ist dreckig, die Frau war lieber in der Uni, als zu putzen, und ihr Kopftuch hat sie auch nicht richtig getragen. Der Mann holt aus und schlägt zu. Es klatscht – aber nicht, weil es wirklich zu häuslicher Gewalt kommt. Das Publikum im Saal der evangelisch-reformierten Gemeinde im Frankfurter Westend applaudiert und beendet damit die Szene, die zwei junge Männer aus Afghanistan dort vor ihrem Seminar zu Gleichberechtigung und Gewaltfreiheit gespielt haben. Ihre Aufgabe war, Unterdrückung von Frauen zu zeigen, diese Szene haben sie sich ausgedacht. Jetzt wird darüber diskutiert.

Der Kurs, den Zafer Cin vom Beratungszentrum Frauenrecht ist Menschenrecht (FIM) anbietet, heißt „man – männlich. anders. neu.“ und soll Männer mit Migrationshintergrund und Fluchtgeschichte dazu anregen, sich kritisch mit patriarchalen Machtverhältnissen und Ehrgewalt auseinanderzusetzen. Ehrgewalt, darunter werden Taten gefasst, die geschehen, weil sich jemand in seiner Ehre, also in Ansehen, Respekt oder in der Sexualmoral, verletzt sieht. „Gewisse Handlungen werden von einer Gruppe als richtig und falsch kategorisiert. Wird die Ehre beschmutzt, soll sie durch Gewalt reingewaschen werden“, sagt Elvira Niesner. Sie leitet FIM. Das Beratungszentrum setzt sich für Frauenrechte ein, etwa für Prostituierte, Migrantinnen oder Frauen, die unter Genitalverstümmelung leiden. Seit 2019 ist FIM ein Schwerpunktträger im „2RegionenNetzwerk“ aus neun Trägern in Hessen, das mit einer Förderung des Landes gegen Ehrgewalt berät und präventiv arbeitet.

Workshopleiter Zafer Cin stellt einschneidende Fragen: „Was ist Ehre eigentlich? Wie wurde ich sozialisiert, und was bedeutet Männlichkeit?“

Workshopleiter Zafer Cin stellt einschneidende Fragen: „Was ist Ehre eigentlich? Wie wurde ich sozialisiert, und was bedeutet Männlichkeit?“ © Anton Vester
 
Zur Prävention gehört die Arbeit von Zafer Cin. Zur Intervention, also zur Beratung, sind im vergangenen Jahr 250 Betroffene in Hessen gekommen. Die meisten sind junge Frauen, obwohl auch Männer Opfer von Ehrgewalt werden können – etwa, wenn sie nicht „die Richtige“ heiraten wollen oder schwul sind. Die Hälfte der Betroffenen war zwischen 18 und 21 Jahre alt, sagt Niesner. 27 Nationalitäten waren vertreten, viele sind aber in Deutschland geboren. „Das ist kein spezifisches Geflüchtetenphänomen“, sagt Niesner.
Der Weg ist das Ziel: Zafer Cin erklärt in seinem Kurs den Teilnehmern, wie sie eine schlechte Situation in eine wünschenswerte Szene umgestalten können.
Der Weg ist das Ziel: Zafer Cin erklärt in seinem Kurs den Teilnehmern, wie sie eine schlechte Situation in eine wünschenswerte Szene umgestalten können. © Anton Vester

Ehre“ als starke Triebfeder

Spiel und Ernst: Eine Aufgabe ist es, sich Szenen auszudenken – etwa zum Thema Flucht. Die Männer haben dazu persönliche Erfahrungen, deshalb wird in den Kursen auch Biographiearbeit geleistet.

Spiel und Ernst: Eine Aufgabe ist es, sich Szenen auszudenken – etwa zum Thema Flucht. Die Männer haben dazu persönliche Erfahrungen, deshalb wird in den Kursen auch Biographiearbeit geleistet. © Anton Vester

Zur Beratung kommen Menschen, die geschlagen, kontrolliert, zwangsverheiratet werden sollen – oder sich nach vielen Jahren aus einer solchen Ehe lösen wollen. Bei FIM werden die Frauen „nicht paternalistisch“ beraten, das ist Niesner wichtig. Sie meint: Sie schreibt niemandem vor, wie er sich zu verhalten hat. Wenn eine Frau sich mit ihrer Situation arrangiert, wird sie ihr nicht einflüstern, doch ihr gesamtes Leben hinter sich zu lassen. Denn das bedeutet es für Betroffene oder Gefährdete von Ehrgewalt oft. Wer daraus ausbrechen will, muss alle Beziehungen abbrechen und geht eine große Gefahr für das eigene Leben ein. Dann werden über Monate Kleidung, einzelne Dokumente und der Pass an einen sicheren Ort geschmuggelt, bis die Frau bereit ist, zu verschwinden.

Die Täter sind oft Brüder oder Väter, doch Frauen trügen das System mit, sagt Niesner. Weil die Motivation „Ehre“ eine besonders starke Triebfeder sei, gingen Familienmitglieder auch hohe persönliche Risiken ein und begingen Straftaten, bis zum Mord. „Weil es nicht nur einzelne Täter gibt, sondern mit der Familie eine Gruppe, die Gewalt ausübt, kann das besonders gefährlich sein.“

Damit es erst gar nicht dazu kommt, gibt es „man“. Zafer Cin hebt hervor, dass er in der Prävention nicht mit „Tätern“ arbeitet. Er setzt mit seinen theaterpädagogischen Methoden vorher an, um den Männern Fragen zu stellen, für die es zuvor keinen Raum gab. Was ist Ehre eigentlich? Wie wurde ich sozialisiert, und was bedeutet Männlichkeit? „Das ist auch ganz viel Biographiearbeit“, sagt Cin, der eigentlich Historiker ist, aber seit Jahren in der sozialen Arbeit tätig ist und sich entsprechend weitergebildet hat. Und obwohl in der Gruppe im Westend fast alle aus Afghanistan kommen, unterscheiden sich die Antworten der Männer sehr.

Das zeigt sich auch in der Diskussion über Lösungsansätze für die Szene zwischen dem Mann und seiner Frau, die in die Uni gehen will. Polizei rufen, Eltern zurate ziehen, „mit Liebe miteinander reden“, schlagen einige vor. Ein Teilnehmer sagt, die Frau sollte die Kritik des Mannes erst mal hinnehmen, damit er sich abregen kann, und so die Gewalteskalation vermeiden. Später könnten sie dann ja in Ruhe über alles reden. Er versucht, Verständnis für den Mann in der Szene zu erzeugen: „Stell dir vor, du hattest einen harten Tag, kommst heim, alles ist dreckig . . .“ – weiter kommt er nicht. „Dann mach selbst sauber“, fährt ihm ein Mann dazwischen, der in Afghanistan als Anwalt gearbeitet hat. Ein älterer Teilnehmer schaltet sich ein: „Aber so ist der Deal.“ – „Das ist kein Deal, das ist das Leben. Vielleicht hatte sie keine Lust?“, setzt der frühere Anwalt hinterher. „Kommst du überhaupt aus Afghanistan?“, fragt ein anderer Mann im Scherz. Die Stimmung ist trotzdem angenehm. Die Männer sagen ungefiltert ihre Meinung, aber sie hören einander auch zu.

Beim Workshop zum Thema Ehrgewalt von Zafer Cin für Männer mit Migrationshintergrund amüsieren sich die Teilnehmer während eines Gruppenspiels.

Beim Workshop zum Thema Ehrgewalt von Zafer Cin für Männer mit Migrationshintergrund amüsieren sich die Teilnehmer während eines Gruppenspiels. © Anton Vester

 

Das Projekt „man“ gliedert sich in zwei Phasen: In der ersten arbeitet Cin intensiv mit Männern in Kursen wie dem in der Gemeinde. Er vermittelt Wissen und arbeitet viel mit dem Theater der Unterdrückten nach Augusto Boal. Los geht es dabei erst mal mit Bewegungsspielen, die manchem Teilnehmer schon etwas Mut abverlangen. Wann haben erwachsene Männer das letzte Mal im Kreis in die Hände geklatscht, um einen Impuls weiterzugeben, wann haben sie einander blind durch den Raum geführt? An diesem Tag machen aber alle mit, wenn auch mit einem gelegentlichen Seitenblick, um zu überprüfen, ob sie nicht die Einzigen sind, die sich lächerlich machen. Mit den Übungen nähert sich Zafer Cin immer stärker dem eigentlichen Thema an: Er lässt die Männer zum Beispiel Machtgefälle spüren. Und lädt sie ein, Strukturen zu überdenken.

Die Rollenspiele bringen viele Emotionen hervor. Bevor es an die gewaltvolle Szene zwischen Mann und Frau geht, zeigt eine andere Kleingruppe ihre Szene zum Thema Flucht. Die Fluchterfahrung eint die Männer im Gemeindesaal. Danach ist der Redebedarf groß. Cin macht darum eine kurze Pause, sofort kommt ein Teilnehmer auf ihn zu. Er muss seine Geschichte erzählen. Die Situation in Kabul nach der Machtübernahme der Taliban sei wie im Film „The Purge“ gewesen, sagt er: vollkommen chaotisch, rechtlos, gefährlich, unmenschlich. Der Wirtschaftswissenschaftler berichtet mindestens eine Viertelstunde en detail, wie er den Taliban entkommen ist. Solche traumatischen Geschichten hört Zafer Cin bei seiner Arbeit öfter.

Die Teilnehmer kommen zehnmal für sechs Stunden, am Ende werden sie zertifiziert. Dann kommt Phase zwei des Projekts: Die Männer gehen als Tandem selbst in Gemeinschaftsunterkünfte und geben dort ihr Wissen, ihre neu gewonnenen Einsichten und Denkanstöße in Workshops weiter, Cin ist dabei, gibt Hilfestellung oder steht für Nachfragen bereit. In vier Unterkünften sind die Tandems schon unterwegs, die im vergangenen Jahr zertifiziert wurden.

Die neue Gruppe im Westend ist sehr gemischt. Unter den Teilnehmern sind mehrere Akademiker, viele haben schon Kinder, einige erzählen, dass sie in der Heimat für die Vereinigten Staaten oder Deutschland gearbeitet haben. Manche leben noch in einer Unterkunft, einige haben eine Wohnung gefunden, fast alle gehen unter der Woche zum Deutschkurs. Zwei Jungen im Alter von 16 Jahren sind auch dabei, sie gehen in Intensivklassen. Der Workshop bei Cin findet am Wochenende statt und ist ein freiwilliges zusätzliches Engagement. Aber eines, das sich positiv auf ihre Bleibeperspektive und ihren Integrationserfolg auswirken kann, das ist den Männern klar.

„Mein Onkel hat mir gesagt, ich soll gehen, ich könnte viel Neues lernen“, sagt einer der Jungen. Er geht inzwischen in die neunte Klasse. Neben ihm steht der andere Jugendliche, für ihn übersetzt er manchmal ein bisschen Deutsch in Farsi. Der zweite Sechzehnjährige ist erst acht Monate in Deutschland. Er ist zu Fuß aus seiner Heimat Afghanistan aufgebrochen, um vor den Taliban zu fliehen. Jetzt hofft er auf ein besseres Leben in Deutschland. Eines ohne Gewalt, auch nicht gegen Frauen.