Bundesländer melden starken Anstieg bei häuslicher Gewalt

Artikel von Martin Lutz •  Die Welt

Die Bundesländer melden für das vergangene Jahr einen drastischen Anstieg bei Opfern von Straftaten und Verbrechen im privaten Bereich. Die Ursachen scheinen vielschichtig, Experten zufolge sind die Nachwirkungen der Pandemie aber ein wesentlicher Grund.

Die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in Deutschland hat im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Wie Recherchen von WELT AM SONNTAG bei den Innenministerien und Landeskriminalämtern der 16 Bundesländer ergaben, wurden bundesweit 179.179 Opfer von der Polizei registriert. Das entspricht einem Anstieg von 9,3 Prozent gegenüber dem Jahr 2021. Als Täter werden Partner, Ex-Partner und Familienangehörige erfasst. Zwei Drittel der Opfer sind Frauen. Die Dunkelziffer ist hoch, weil sich viele Betroffene nicht trauen, Anzeige zu erstatten.

Beim Vergleich der Bundesländer verzeichnet das Saarland mit 19,7 Prozent (3178 Opfer) den stärksten Zuwachs. Dahinter kommen Thüringen (plus 18,1 Prozent, 3812 Opfer) und Baden-Württemberg (plus 13,1 Prozent, 14.969 Opfer). Insgesamt melden 15 Bundesländer deutlich mehr Opfer. Die Zahlen sanken nur im Land Bremen (minus 13,6 Prozent, 2615 Opfer). Das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen weist 37.141 Opfer (plus 8,5 Prozent) aus. Auffällig ist, dass dort die Zahl der Körperverletzungen bei häuslicher Gewalt im Fünf-Jahres-Vergleich um 26,2 Prozent gestiegen ist.

Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte dazu: „Die Zündschnur ist bei vielen Menschen kürzer geworden und der allgemeine Ton rauer. Das gesellschaftliche Klima hat sich verändert.“ Dies mache auch an den Haustüren nicht halt: „Zu Hause ist mehr Gewalt eingezogen.“ Die Daten der Länder fließen in ein umfassendes Lagebild ein, das vom Bundeskriminalamt erstmals vorgelegt wird. Unter häusliche Gewalt fallen etwa Mord, Totschlag, Körperverletzung, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung.

BKA-Präsident Holger Münch, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) werden das Papier am 3. Juli in Berlin präsentieren. Zudem lassen sie derzeit eine große „Dunkelfeldstudie“ erstellen. „Häusliche Gewalt geschieht oftmals im verdeckten, im privaten Bereich. Scham- und Schuldgefühle der Betroffenen führen häufig dazu, dass die Taten im Dunkeln bleiben und nur selten polizeilich angezeigt werden. Dieses Dunkelfeld ist ungleich größer als das Hellfeld“, so Paus. Sie plant eine staatliche „Koordinierungsstelle“, die häusliche Gewalt ressortübergreifend bekämpfen soll.

Faeser fordert gegenüber WELT AM SONNTAG mehr Kontrollen der Polizei, wenn diese Täter nach gewaltsamen Übergriffen aus der Wohnung verwiesen hat: „Das muss konsequent kontrolliert werden, damit Täter nicht schnell wieder zurückkehren.“ Denn häusliche Gewalt sei keine Privatsache, sondern ein gravierendes gesellschaftliches Problem. „Gewalt fängt nicht erst mit Schlägen oder Misshandlungen an: Es geht auch um Stalking und Psychoterro

Konfliktmuster der Pandemie „wirken schmerzlich fort“

Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, macht Nachwirkungen der Corona-Pandemie für den Anstieg der Gewalt verantwortlich. „Offenkundig hat die angespannte Lebenssituation der Corona-Jahre sich in erhöhter familiärer Gewaltbereitschaft niedergeschlagen. Die finanziellen und gesundheitlichen Sorgen, die räumliche Enge, die Unsicherheit über die Zukunft haben als eine Art Brandbeschleuniger für Gewalt in Partnerschaft und Familie gewirkt“, sagte sie. Mit dem Ende der Pandemie lasse sich das nicht einfach zurückdrehen: „Es sind Konfliktmuster entstanden, die schmerzlich fortwirken.“

Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik bei der Diakonie, nannte die Zunahme bei den Opfern erschreckend. „Ein Grund für den Anstieg könnte sein, dass das Bewusstsein für häusliche Gewalt insgesamt gestiegen ist und nach den unsicheren Jahren der Pandemie Frauen jetzt eher Fälle von Gewalt anzeigen“, sagte sie. Als Pilotprojekt wird in Berlin und Hannover derzeit eine Tarn-App für häusliche Gewalt getestet, 2024 sollen weitere Städte folgen.

 Betroffene Frauen können dabei durch Druck auf das Handydisplay einen Notruf an die Polizei schicken, ohne mit ihr sprechen zu müssen. So sollen Täter nicht mitbekommen, wenn sich ein Opfer an die Polizei wendet. „Die Downloadzahlen liegen im hohen dreistelligen Bereich“, heißt es beim Verein Gewaltfrei in die Zukunft, der die App entwickelt hat. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Justiz mit rund 1,7 Millionen Euro gefördert. Bislang wird vor allem das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ genutzt, das rund um die Uhr unter 08000 116 016 geschaltet ist. Seit dem Start 2013 gab es 387.710 Beratungen.