Wie geht es mit den Syrern in der Türkei weiter?


Mittlerweile leben fast vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei. Während die einen sie nicht mehr im Land sehen wollen, sehen andere sie als tragende Säule der türkischen Wirtschaft. Nun flammt eine Diskussion über die Zugewanderten in der Türkei auf, die auch langfristig zu einem zentralen Wahlkampfthema werden könnte.

Es war Ende April 2011, als die ersten Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei ankamen. Sie flohen vor dem Bürgerkrieg im eigenen Land. Zuerst kamen etwa 252 Flüchtlinge, doch schon bald sollten es mehr werden. Mittlerweile zählt die türkische Generaldirektion für Migrationsverwaltung fast vier Millionen Syrer, die in der Türkei Zuflucht gefunden haben. Für diese hohe Zahl ist auch der Flüchtlingspakt zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei mitverantwortlich. Dem Abkommen nach sollte die türkische Regierung gegen Schlepperbanden vorgehen und alle von den griechischen Inseln ankommenden Flüchtlinge zurücknehmen. Im Umkehrschluss sicherte die EU zu, für jeden zurückgenommenen Flüchtling einen registrierten Flüchtling aufzunehmen. Außerdem und vor allem aber sollten der türkischen Regierung etwa sechs Milliarden Euro zur Versorgung syrischer Flüchtlinge bereitgestellt werden. Beide Seiten feierten den Deal als großen Erfolg.

Doch es gibt auch Kritik. Auf Seiten der EU bezieht sie sich darauf, dass die Regierung des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf diese Weise unterstützt wird. Dieser wird vor allem wegen Entgleisungen in Bezug auf Menschenrechte und die Unterdrückung Oppositioneller kritisiert. Innerhalb der türkischen Bevölkerung hingegen will man nicht viel von der EU-Unterstützung wissen. Dort bezieht sich der Ärger hauptsächlich auf die Syrer selbst.

Syrer werden zum Wahlkampfinstrument

Die Syrer, die am Anfang als „Gäste“ angesehen und noch freundlich empfangen wurden, will man heute nicht mehr im Land haben. Sie seien überall und würden den Türken die Arbeit wegnehmen, heißt es mittlerweile an mancher Stelle. Besonders heftig werden syrische Jugendliche unter 30 Jahren kritisiert. Sie würden nur faulenzen und von der Türkei profitieren. Stattdessen sollen sie „in ihr Land zurück und kämpfen“, liest man in vielen Social Media-Kommentaren. Oft gehen diese Bemerkungen in Rassismus über. Das Konfliktpotenzial zwischen Einheimischen und Zugewanderten ist enorm, auch mit Hinblick auf die derzeit zusätzlich ankommenden afghanischen Flüchtlinge.

Dabei beschränkt sich das Problem nicht nur auf Ultra-Nationalisten. Selbst die säkulare Elite beteiligt sich an den Abschiebungsforderungen. Es war sogar der Vorsitzende der kemalistischen CHP Kemal Kılıçdaroğlu höchstpersönlich, der die jüngsten Diskussionen über eine Abschiebung der Flüchtlinge angestoßen hat. In einem Video sagte er, dass es zu den obersten Prioritäten seiner Regierung gehören werde, die Syrer innerhalb von zwei Jahren zurückzuführen. Man habe bereits alle Pläne ausgearbeitet. Zwar fand der CHP-Vorsitzende auch freundliche Worte gegenüber den Syrern, als er diese beispielsweise als „Geschwister“ bezeichnete, doch der Populismus war insgesamt nicht zu überhören. Das dürfte angesichts der Debatten um vorgezogene Wahlen nicht weiter verwunderlich sein.

Plan: Flüchtlinge mit hohen Nebenkosten abschrecken

Anders als der CHP-Chef sorgte Tanju Özcan, Oberbürgermeister der Stadt Bolu, für größere Aufregung. Dieser sagte auf einer Pressekonferenz, dass man die Gäste endlich verabschieden wolle. Da diese aber nicht freiwillig gehen würden, werde man nicht-türkische Staatsbürger mit außergewöhnlichen Maßnahmen abschrecken. So sollen Ausländer unter anderem bei den Wasserversorgungskosten das zehnfache des normalen Preises zahlen.

Die Aussagen des CHP-Mitglieds sorgten zwar selbst bei Parteigängern für Kopfschütteln, dennoch wird darin das Ausmaß der Wut gegenüber Syrern deutlich. Damit betreibt die Partei aber auch ein Stück Wahlkampf. So hat sich auch der Vorsitzende der ultra-nationalistischen MHP, Devlet Bahçeli, in dieser Frage erstmals seit der Versöhnung mit dem türkischen Staatspräsidenten öffentlich gegen die Flüchtlinge positioniert. Wer an den Feiertagen anlässlich des islamischen Opferfests zurück nach Syrien gegangen sei und dort keine Probleme bekommen habe, solle auch nicht zurückkehren, so Erdoğans Bündnispartner. Tatsächlich waren viele zum jüngsten Fest für wenige Tage nach Syrien gereist und anschließend zurückgekommen.

Flüchtlinge wichtige Säule der türkischen Wirtschaft?

Erdoğan selbst will die Syrer auf keinen Fall zurückschicken. Erst letzte Woche sagte er vor Journalisten, dass man niemanden, der bei ihnen Zuflucht gefunden habe, „in den Schoß von Mördern“ legen werde, solange man an der Regierung sei. Mit den Syrern und dem EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen hat der türkische Präsident ein wichtiges Druckmittel gegenüber der EU: Würde er die Grenzen öffnen, könnte die EU vor einem großen Problem wie schon bei der ersten großen Flüchtlingswelle 2015 stehen.

Es gibt aber auch Stimmen, die im Verbleib der Syrer einen großen Vorteil sehen. Diese Ansicht wird derzeit eher von Mitgliedern der regierenden AKP vertreten. In diesem Zusammenhang sprach der ehemalige stellvertretende AKP-Vorsitzende Yasin Aktay von den Syrern als tragende Säule der türkischen Wirtschaft. „Wenn Sie aus einigen Regionen die Syrer wegschicken, wenn die Syrer weggehen, würde die Wirtschaft des Landes einbrechen“, so Aktay in einem Interview mit Euronews. Kurze Zeit später vernahm man von Mehmet Özhaseki, dem aktuellen stellvertretenden Vorsitzenden der Partei, ähnliche Aussagen. Die Syrer würden in der Industrie von Gaziantep und Kayseri die härtesten Arbeiten erledigen. Das sorgte innerhalb der Bevölkerung für große Verwunderung.

Laut einer Studie der internationalen Arbeitsorganisation ILO arbeiten derzeit rund 950.000 Syrer in der Türkei. Doch die Dunkelziffer, also die Zahl derer, die inoffiziell im Land beschäftigt sind, wird viel höher geschätzt. Laut der Studie sind die meisten Syrer im Handelswesen, Bauwesen und in der Produktion und dort vor allem in der Textilindustrie tätig.