EU will Rückführung von Migranten beschleunigen
Kurz vor dem Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefinnen und -chefs am Donnerstag in Brüssel ist wieder Bewegung in die Debatte um die Asyl- und Migrationspolitik gekommen. Der Gipfel wird sich, auch auf ausdrücklichen Wunsch des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz hin, viele Stunden mit den widersprüchlichen Konzepten zur Migrationspolitik beschäftigen.
Aus deutschen Regierungskreisen hieß es, der Kanzler setze weiter auf "gemeinsame europäische Lösungen" und wolle die Reform der EU-Asylverfahren, die erst 2026 voll in Kraft treten wird, teilweise vorziehen. Das fordern auch viele andere EU-Mitgliedsstaaten seit Monaten, darunter Spanien. Unklar ist aber, was tatsächlich vorgezogen werden kann: Mehr Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, mehr Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber oder mehr Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern von Migranten und Asylsuchenden?
Richtlinien für Abschiebungen werden überholt
Die meisten Innenministerinnen und Innenminister der EU hatten erst am Donnerstag vergangener Woche darauf gedrängt, die Richtlinien für eine schnelle Rückführung von aussichtslosen Asylbewerbern in ihre Heimatländer neu und schärfer zu fassen. Gleichzeitig soll die Zurückweisung von Asylsuchenden an den internen EU-Grenzen, zum Beispiel in Deutschland, erleichtert werden. Dabei geht es um Menschen, die sich bereits in einem anderen EU-Land an der Außengrenze einem Asylverfahren hätten stellen müssen. Rechtzeitig vor dem Gipfeltreffen am Donnerstag hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem Brief angekündigt, dass sie in Kürze die verlangte verschärfte Richtlinie vorschlagen werde.
Drei sagen Nein
Mindestens drei EU-Mitgliedsstaaten sind mit dem gemeinsamen Vorgehen der Union nicht einverstanden. Die neuerdings von Rechtspopulisten regierten Niederlande und der derzeitige EU-Ratspräsident Ungarn verlangen ein sogenanntes Opt-out aus der Asylpolitik. Sie wollen die beschlossenen Reformen auf keinen Fall mittragen. Neu hinzugekommen ist Polen. Der christdemokratische polnische Regierungschef Donald Tusk will europäisches Asylrecht in seinem Land vorübergehend überhaupt nicht mehr anwenden. Er sieht eine Notlage in Polen.
Diese angekündigte Nichtbeachtung europäischen Rechts kritisierte die EU-Kommissarin für Innenpolitik, Ylva Johansson. "Das ist nicht möglich. Und das haben wir auch mitgeteilt", sagte Johansson. Ein Opt-out, also ein Aussteigen aus der EU-Migrationspolitik, sei nur möglich, wenn die EU-Verträge geändert würden. Das steht aber im Moment überhaupt nicht zur Debatte. "Keine gute Idee!", meinte dazu die deutsche Innenministerin Nancy Faeser kurz und knapp.
Ungarn, Italien und Finnland auf Sonderwegen
Auch ohne förmliches Opt-out hält sich Ungarn schon seit Jahren nicht mehr an die gemeinsame Asylpolitik. Es wurde deswegen mehrfach vom Europäischen Gerichtshof verurteilt, setzt die Urteile aber nicht um. Zurzeit versucht die EU-Kommission mit dem Eintreiben von Zwangsgeldern in Höhe von 200 Millionen Euro, die Regierung von Viktor Orban in Budapest zum Einlenken zu bewegen. Orban jedoch hat bereits angekündigt, sich nicht um die beschlossenen Reformen zu scheren und überhaupt keine Asylsuchenden mehr aufzunehmen.
Die italienische Regierung, angeführt von der rechtsextremen Regierungschefin Giorgia Meloni, hält sich ebenfalls nicht an EU-Recht. Sie lehnt es bislang ab, Asylsuchende aus Deutschland oder Österreich zurückzunehmen, die zuerst in Italien angekommen sind. Diese Menschen müsste Italien nach den sogenannten Dublin-Regeln registrieren und in ein Asylverfahren nehmen. Stattdessen reisen viele Menschen nach Norden weiter. Auch aus Griechenland an der südöstlichen EU-Außengrenze ziehen Tausende Asylsuchende und Migranten über die Balkanroute in die nördlichen EU-Staaten weiter. Auch das ist nach den Dublin-Regeln für die Zuständigkeiten in der EU eigentlich nicht vorgesehen.
Italien, Griechenland und andere Staaten an den Außengrenzen argumentieren aber, sie seien mit der Masse der ankommenden Menschen überfordert. Als Reaktion auf diese Binnenwanderung innerhalb der EU haben Frankreich, Österreich, Dänemark, Schweden, die Slowakei, und neuerdings auch Deutschland wieder Grenzkontrollen eingeführt, um sogenannte unerlaubte Einreisen feststellen zu können. Personenkontrollen an den Binnengrenzen der EU sind eigentlich nur im absoluten Ausnahmefall gestattet.
Finnland hält sich an seiner Landgrenze zum verfeindeten Russland seit Juli nicht mehr an EU-Recht. Migranten, die über Russland einreisen wollen, wird die individuelle Prüfung eines Asylantrages verweigert. Sie werden pauschal nach Russland zurückgeschickt. Der finnische Ministerpräsident Petteri Orpo sagte im Juli, das Gesetz sei notwendig, obwohl es im Widerspruch zu internationalen Menschenrechtsverpflichtungen Finnlands stehe. Finnland, die baltischen Staaten und Polen werfen Russland und Belarus vor, Migranten massenhaft an die Grenzen zu bringen, um die EU zu destabilisieren. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk sagte, er wolle dem finnischen Modell folgen und die polnische Grenze zu Belarus für Asylsuchende schließen.
Auslagerung von Asylverfahren
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen legte vor dem Gipfeltreffen der EU am Donnerstag noch einmal einen langen Zehn-Punkte-Plan für die gemeinsame Asylpolitik vor. Er enthält neben vielen bekannten Dingen auch die Ankündigung, dass die Zusammenarbeit mit Drittstaaten weiter verbessert werden soll. Viele EU-Mitgliedsstaaten wollen prüfen, ob eine komplette Auslagerung der Asylverfahren in Länder wie Ruanda möglich wäre. Die britische Regierung ist bislang mit einem solchen Projekt gescheitert.
Kurz vor dem Gipfeltreffen hat Italien sein extraterritoriales Lager für Asylverfahren in Albanien in Betrieb genommen. Italien will die Verfahren für Bootsflüchtlinge im EU-Bewerberland Albanien nach italienischem Recht abwickeln. Anerkannte Asylbewerber und ebenso abgelehnte Asylbewerber kehren anschließend aus Albanien nach Italien zurück, falls sie nicht sofort abgeschoben werden können. Dieses Verlegen der eigenen Asylverfahren in ein anderes Land wird von der EU-Kommission nicht als überzeugendes Modell betrachtet, heißt es von EU-Diplomaten.
Routen verschieben sich
Auf der Route von Nordafrika nach Italien hat sich die Zahl der Migranten 2024 stark verringert. Rund 42.000 kamen von Januar bis August in Italien an. Im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Vorjahr sind das 64 Prozent weniger. Das liegt nach Auskunft der EU-Kommission vor allem an der besseren Zusammenarbeit mit den Transitstaaten Tunesien und Libyen. Allerdings hat sich die Zahl der Migranten auf der westlichen Mittelmeer- und Atlantikroute im gleichen Zeitraum auf 25.500 mehr als verdoppelt. Auch auf der östlichen Mittelmeerroute nach Griechenland und Zypern steigen die Zahlen. Bisher wurden dort bis zum August 2024 rund 37.000 Einreisen registriert. Das sind 39 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
Autor: Bernd Riegert