Debatte schwelt seit Wochen - Flüchtlingen das Bürgergeld kürzen? Fünf Fakten zeigen, was das wirklich verändert
CDU und CSU wollen Asylbewerber und Geflüchteten die Leistungen kürzen. CSU-Politiker Dobrindt fordert etwa eine Leistung unterhalb des Bürgergelds für Asylbewerber. In einer Debatte, in der viele Teilnehmer Gesetze und Fakten ausblenden, erklären fünf Punkte, worum es wirklich geht.
1. Asylbewerber bekommen schon weniger Geld als Bürgergeldempfänger
Die Forderung: Alexander Dobrindt (54, CSU), Landesgruppenchef im Bundestag, sagte der „Bild“-Zeitung: „Es muss ein neues soziales Leistungssystem für Asylbewerber geben, das unterhalb des Bürgergeldes anzusiedeln ist.“
Die Einordnung: Asylbewerber bekommen gar kein Bürgergeld. Das von Dobrindt geforderte Leistungssystem unterhalb des Bürgergelds gibt es bereits. Es heißt Asylbewerberleistungsgesetz.
Asylbewerber bekommen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zunächst deutlich niedrigere Leistungen als Bürgergeld. Eine vierköpfige Asylbewerberfamilie (zwei Erwachsenen, zwei Kindern zwischen sechs und 13 Jahren) erhält monatlich 642 Euro Bargeld sowie 866 Euro als Sachleistung wie Kleidung und Essen. Deutlich weniger als vierköpfige Familie mit Bürgergeld.
Erst wenn sie als Geflüchtete anerkannt sind, haben sie – bei Bedürftigkeit – Anspruch auf Bürgergeld.
2. Langfristig arbeiten Geflüchtete häufiger Vollzeit als der Bundesschnitt
Die Forderung: Einige Kritiker beziehen sich auch auf anerkannte Geflüchtete. Diese erhalten Bürgergeld.
Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alexander Throm (55), fordert gegenüber „Bild“ einen verpflichtenden gemeinnützigen Dienst: „Morgens Sprache lernen, nachmittags den Park pflegen. Jeder muss seinen Beitrag leisten.“
Seine Forderung begründet Throm damit, dass die Quote der anerkannten Schutzberechtigten unter den Bürgergeldbeziehern steigt. „Mittlerweile sind es bereits um die 50 Prozent. Diese Sozialleistung kommt also immer weniger unseren Bürgern zugute und immer mehr den Zugewanderten, insbesondere den Flüchtlingen.“
Die Einordnung: Grundsätzlich stimmt, dass der Anteil anerkannter Geflüchteter unter den Bürgergeldempfängern zuletzt stieg. Es kamen aber auch überdurchschnittlich viele Geflüchtete nach Deutschland, etwa aus der Ukraine.
Die Bürgergeld-Statistik ignoriert aber die Aufenthaltsdauer von Geflüchteten in Deutschland.
- Von Geflüchteten im erwerbstätigen Alter, die weniger als ein Jahr in Deutschland sind, arbeiten laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) weniger als zehn Prozent.
- Danach steigt die Kurve schnell an: Nach drei Jahren in Deutschland arbeitet jeder dritte Geflüchtete im erwerbstätigen Alter.
- Geflüchtete, die länger als sieben Jahre in Deutschland leben, arbeiten häufiger Vollzeit als der Bundesdurchschnitt.
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Ukrainer machen derzeit einen hohen Teil der anerkannten Geflüchteten aus. Weil sie meist noch nicht lange im Land sind, arbeiten sie seltener und drücken den Durchschnitt.
Fazit: Weil Geflüchtete oft erst die Sprache lernen und Abschlüsse machen oder anerkennen lassen müssen, brauchen sie einige Jahre, um sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Danach liefern sie einem arbeitskräftehungrigen Deutschland aber Arbeitskräfte, die es dringend braucht.
Dobrindts Aussage, jeder müsse seinen Beitrag leisten, unterstellt Geflüchteten, derzeit keinen Beitrag zu leisten. Das stimmt nicht.
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3. „Bürgergeldempfänger mit Migrationshintergrund“ bedeutet nicht, was Sie denken
Die Forderung: Unabhängig davon, ob Menschen als Geflüchtete nach Deutschland kamen oder auf anderem Weg, fordern einige mehr Arbeitsanreize für Ausländer. Immer wieder weisen Politiker etwa darauf hin, dass rund zwei Drittel aller Bürgergeldempfänger einen Migrationshintergrund besitzen.
Die Einordnung: Das Statistische Bundesamt unterscheidet seine Bürgergeldzahlen nach Menschen ohne Migrationshintergrund und Menschen mit Migrationshintergrund im weiteren Sinn. Zu letzterer Kategorie rechnet das Amt alle Personen, bei denen mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland geboren wurde.
Bekommt ein Paar aus einem in Deutschland geborenen und einem als Baby hierher gezogenen Partner ein Kind, schreibt das Amt diesem Kind also einen Migrationshintergrund im weiteren Sinne zu. Wer bei dieser Formulierung nur an Syrer, Afghanen und Ukrainer denkt, übersieht einen Großteil des Bildes.
Fazit: Wer behauptet, das Bürgergeld-System diene vor allem Geflüchteten, vermittelt ein falsches Bild. Asylbewerber erhalten zunächst kein Bürgergeld. Menschen mit Migrationshintergrund machen einen größeren Teil der Statistik aus, als viele erwarten, weil das Bundesamt zu ihnen mehr Menschen zählt, als der Volksmund annimmt.
4. Viele Bürgergeldempfänger mit Migrationshintergrund arbeiten
Die Forderung: Die, die auf den überraschend hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund unter Bürgergeldempfänger hinweisen, implizieren oft, diese Bürgergeldempfänger arbeiteten nicht. Deswegen schlagen sie vor, sie zur Arbeit zu zwingen. Dobrindt sagt der „Bild“-Zeitung: „Wer zumutbare Arbeit verweigert, der muss mit Leistungskürzungen rechnen.“
Die Einordnung: Menschen mit Migrationshintergrund beziehen häufiger Bürgergeld als Menschen ohne Migrationshintergrund. Viele von ihnen sind jedoch beschäftigt. Der Anteil von Bürgergeldempfängern ist unter Ausländern mit Migrationserfahrung am höchsten. Bei Ausländern ohne Migrationserfahrung – also hier Geborenen mit ausländischem Pass – liegt er niedriger. Noch niedriger liegt er unter hier geborenen Deutschen, bei denen mindestens ein Elternteil in die Bundesrepublik migrierte.
Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten rund viereinhalbmal so häufig in Hilfsjobs wie der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Sie verdienen weniger und bekommen daher häufiger zusätzlich zur Arbeit Bürgergeld.
Die Statistik verdeutlicht vor allem, was Experten bestätigen: Menschen mit Migrationshintergrund sprechen – wenig überraschend – im Mittel schlechter Deutsch und verfügen über niedrigere hier anerkannte Qualifikationen als Menschen ohne Migrationshintergrund, die sich in Schule, Universitäten und anderen Bildungsstätten ihr Leben lang auf den hiesigen Arbeitsmarkt vorbereitet haben. Deswegen verdienen sie schlechter und bekommen häufiger zusätzlich Bürgergeld. Dieser Effekt nimmt aber ab, je länger sie in Deutschland sind.
Fazit: Diesen Menschen eine Arbeitspflicht aufzuerlegen, dürfte wenig am Gesamtbild ändern und wenig einsparen. Sie arbeiten ja schon. Experten fordern eher Maßnahmen, die die Integration beschleunigen: mehr und bessere Sprachkurse, weniger bürokratische Hürden bei der Anerkennung von Abschlüssen.
5. Mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt? Funktioniert wie bei allen anderen auch
Die Forderung: Der Anteil arbeitender Frauen bleibt unter Geflüchteten auffallend niedrig. Auch unter den mehr als sieben Jahre in Deutschland lebenden geflüchteten Frauen arbeitet weniger als jede Dritte. Geflüchtete Frauen beziehen auch häufiger Bürgergeld als Männer.
Das IAB fordert deswegen bessere Kinderbetreuung, flexible Arbeitszeitmodelle und die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Die Einordnung: Längerfristig hier lebende geflüchtete Männer arbeiten fast alle. Will die Bundesrepublik mehr Geflüchtete in den Arbeitsmarkt bringen, muss sie bei den Frauen ansetzen.
Teils geschieht dies wohl von allein: Ein großer Teil der arbeitslosen geflüchteten Frauen sucht Arbeit, berichten Sozialverbände und Experten übereinstimmend.
Die Forderungen zur Arbeitsmarktintegration geflüchteter Frauen gleichen denen zur besseren Arbeitsmarktintegration hier geborener Frauen, die in der Teilzeitfalle festhängen. Egal, wo jemand herkommt, irgendjemand muss sich um die Kinder kümmern. Leben die Großeltern nicht nur in einer anderen Stadt, sondern in einem anderen Land, bleibt mehr an den Müttern hängen.
Fazit: Alle Menschen in Deutschland stehen vor den gleichen Problemen. Die Schwere variiert, aber die Probleme bleiben gleich. Politiker bringen am ehesten mehr Menschen in den Arbeitsmarkt, indem sie diese Probleme lösen