Grünen-Politiker zur Migrationspolitik: „Mit Grausamkeit werden wir nicht erfolgreich sein“

         Geschichte von Felix Hackenbruch
Nach dem Absturz bei der Europawahl streiten die Grünen über den richtigen Kurs in der Asylpolitik. Der Europaabgeordnete Erik Marquardt fordert mehr Mut zur Menschlichkeit.
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                                                     Erik Marquardt sitzt für die Grünen im Europaparlament. © Foto: IMAGO/Funke Foto Services/Reto Klar

 

Herr Marquardt, vier Wochen nach dem Absturz der Grünen bei der Europawahl liegt noch immer keine Wahlanalyse vor. Rechnen Sie noch damit?

Es ist nicht schlecht, wenn man sich etwas Zeit nimmt und mit vielen Menschen spricht. Ich würde mir dann aber wirklich ernsthafte Antworten und keine Formelkompromisse wünschen. In der Vergangenheit hatten wir als Partei häufig gescheut, inhaltliche Konflikte auszutragen.

Ihre Partei wirkt unentschlossen, weil sie an allen Seiten verloren hat. Welchen Kurs müssen die Grünen jetzt einschlagen?

Parteien sind erfolgreich, wenn sie überzeugende Ideen haben, die sie selbstbewusst vortragen. Ich bin davon überzeugt, dass viele Menschen erwarten, dass man sich nicht nur taktisch anbiedert. Es muss sichtbar sein, welche Partei für was steht.

Darüber gibt es bei den Grünen aber Streit, zum Beispiel in der Migrationspolitik. Winfried Kretschmann forderte zuletzt „Härte im Asylrecht“. Was sagen Sie dazu?

Wer Härte einfordert oder eine grundlegend andere Migrationspolitik fordert, dann aber nicht konkret wird, hilft nicht dabei, unsere Kompetenzwerte in diesem Feld zu verbessern. Wir müssen unsere Ansätze in der Asylpolitik diskutieren und erklären, aber sie nicht schlecht reden. Das würde ich eher vom politischen Gegner erwarten.

Beim Wettbewerb um die härteste Symbolpolitik gewinnen am Ende die Populisten, das sollte Grünen eigentlich klar sein. Wir haben überzeugende Antworten, wir dürfen aber keine Angst davor haben, sie auch mal gegen Mehrheiten zu vertreten und populär zu machen.

Wie muss eine grüne Migrationspolitik aussehen?

Die Probleme bei Integration oder irregulärer Migration kann man nicht mit schmissiger Kommunikation begegnen. Es ist eine große Kraftanstrengung, die bei der Bekämpfung der Fluchtursachen und einer besseren Verteilung in Europa beginnt.

Wir müssen die europäischen Partner ernsthaft in die Pflicht nehmen. Außenstaatsgrenzstaaten wie Polen, Griechenland oder Kroatien müssen ihrer rechtlichen Verantwortung gerecht werden. Dort findet tausendfacher Rechtsbruch jeden Monat statt, weil Menschen brutal abgewiesen oder ohne Registrierung weitergeschickt werden. Das sorgt für das Chaos und viel Leid.

Es ist kein Naturgesetz, dass die meisten Asylanträge in Deutschland gestellt werden. Wer glaubt, dass man das Problem einfach mit noch ein paar Asylrechtsverschärfungen bewerfen muss und es dann verschwindet, hat die letzten Jahre nicht gut aufgepasst.

Die GEAS-Reform für eine gemeinsame, europäische Asylpolitik haben die Grünen im Europaparlament teilweise abgelehnt. Ist es nicht ein bisschen heuchlerisch, jetzt auf die Außengrenzstaaten zu zeigen?

Wir haben vor allem ein Umsetzungs- und kein Regelungsdefizit. Wenn man bessere Verteilung oder schnellere Verfahren oder ein Ende des Pushback-Chaos zur Abstimmung gestellt hätte, wären wir natürlich dabei gewesen.

Es wird in der Debatte um die Asylpolitik schlicht sehr viel gelogen.

Der Grünen-Politiker Erik Marquardt.

Leider werden die neuen Regeln aus unserer Sicht eher neue Probleme schaffen, als alte zu lösen. Es mangelt bislang einfach am politischen Willen, da wird die Reform nichts Grundlegendes ändern. Wir brauchen eine Lösung, die alle Staaten in die Verantwortung zieht. Es kann nicht sein, dass Geflüchtete am Ende quasi gezwungen sind, in Deutschland und zwei bis drei anderen Ländern ihren Asylantrag zu stellen, wenn sie nicht misshandelt und entwürdigt werden wollen.

Viele Kommunen sind überlastet, eine Mehrheit in Deutschland will nicht mehr Geflüchtete aufnehmen. Was ist falsch daran, dem politisch Rechnung zu tragen?

Die Zahl der Asylanträge ist politisch nicht so einfach steuerbar, wie oft behauptet wird. Sogar in der aktuellen Lage nehmen EU-Staaten teilweise den Tod von Männern, Frauen und Kindern an Außengrenzen in Kauf, um die Zahlen zu senken. Das wird in der Debatte leider ausgeblendet. Aber mit Grausamkeit werden wir nicht erfolgreich sein.

Die wesentliche Frage ist, ob man durchsetzen kann, dass die EU-Staaten gemeinsam Verantwortung in der Asylpolitik übernehmen. Das würde sehr viel ändern, auch für Deutschland. Aber auch in Deutschland wurde sehr viel versäumt. Es fehlt an sozialer Infrastruktur bei Bildung, Gesundheit und Wohnen. Das betrifft ja nicht nur Geflüchtete, aber man zeigt gerne mit dem Finger auf sie. Und unsere Asylpolitik ist inzwischen so bürokratisch, dass sie zehntausende Beamte in Arbeit hält, statt Geflüchtete in Arbeit zu bringen.

Zuletzt haben die Ampel und die Länder aber über eine Bezahlkarte und Asylverfahren in Drittstaaten diskutiert.

Es wird in der Debatte um die Asylpolitik schlicht sehr viel gelogen. Keine Bezahlkarte wird Menschen relevant davon abhalten, in Deutschland Asyl zu beantragen. Die Drittstaatenidee ist rechtlich kaum umsetzbar und ein finanzielles Desaster. Großbritannien hätte über 500.000 Euro pro Flüchtling bezahlt, ein durchschnittlicher Handwerker muss dafür 15 Jahre arbeiten. Jetzt haben sie das gestoppt.

Wenn demokratische Parteien immer wieder Erwartungen weckt, die gar nicht erfüllt werden, wenden sich die Menschen von der Demokratie ab. Das ist das Problem mit Populismus.

Es gibt sehr viele Menschen in Deutschland – vielleicht nicht die Mehrheit – die nichts an Abschottung glauben und die sich wünschen, dass wir menschenrechtsorientiert, rechtsstaatlich und mit Empathie politische Probleme lösen. In der aktuellen Asyldebatte fühlen sich viele Menschen inzwischen heimatlos. Wir können als Partei gewinnen, wenn wir diesen Menschen ein politisches Zuhause bieten. Eine Minderheit können auch 40 Prozent sein, das reicht dann sogar für die Kanzlerschaft.

Das Ampel-Kabinett hat eine Reform des Ausweisungsrechts auf den Weg gebracht. Wer Terror verherrlicht, soll einfacher abgeschoben werden können. Werden die Grünen dem im Parlament zustimmen?

Man sollte nicht den Eindruck vermitteln, dass ein Großteil der Probleme in Deutschland über Abschiebungen zu lösen wäre. Natürlich haben wir ganz offensichtliche Integrationsprobleme.

Es ist nicht hinnehmbar, dass wir Segregation in Städten erleben, dass in manchen Moscheen islamistischer Hass gepredigt wird oder, dass Menschen, die schon viele Jahre in Deutschland leben, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Diese Probleme wollen wir angehen. Wir dürfen keine falschen Erwartungen wecken.

Abschiebungen sind kompliziert, im großen Stil sind sie nicht möglich oder würden vor allem die falschen treffen.

Nach der Europawahl gibt es im Realo-Lager die Forderung nach mehr Pragmatismus und Beinfreiheit für einen Kanzlerkandidaten Robert Habeck. Gehen Sie da mit? 

Pragmatismus ist immer gut. Pragmatisch wären zum Beispiel die bedingungslose Abschaffung von Arbeitsverboten für Geflüchtete oder ein einfacherer Zugang zu Sprachkursen. Gerade am Anfang würden auch Online-Kurse für jeden ab Tag eins helfen, bevor man monatelang auf einen Platz warten muss.

Und Robert Habeck?

Wir haben Robert ja nicht in irgendeinem Keller versteckt, er ist Vizekanzler und Wirtschaftsminister.  Natürlich brauchen wir starke Führungsfiguren wie ihn in der Partei, aber wenn wir ernsthaft näher an den unterschiedlichsten Lebensrealitäten in Stadt und Land Politik machen wollen, dann geht es doch nicht nur um Führungsfiguren.

Viele Bürgerinnen und Bürger nehmen politische Entscheidungen, politische Sprache und die Debatten als lebensfern und elitär wahr. Ich will, dass wir als Partei ausschwärmen und das verändern. Da können wir viel lernen und an manchen Stellen vielleicht auch überzeugen. Wir brauchen mehr Bodenhaftung und nicht weniger.

Stichwort Bodenhaftung: Ist es bei 11,9 Prozent nicht etwas lächerlich, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen?

Wir sollten in der Tat nur Fragen beantworten, die sich auch stellen. Wir sind nach der Europawahl mit starken Blessuren vom Platz gehumpelt. Ich kann verstehen, dass sich Menschen wundern, wenn man sich dann gleich wieder als Kapitän einwechseln will.