Wenn die meisten Experten niedrigere Sozialleistungen für Asylbewerber ablehnen

                          Geschichte von Marcel Leubecher/ Welt
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Im Bundestag werden Experten zu der Frage angehört, ob die staatliche Unterstützung für Asylbewerber abgesenkt werden sollte. Die meisten von ihnen lehnen das ab. Und stellen grundsätzlich die Sicht infrage, dass Sozialleistungen ein „Pull-Faktor“ seien.

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                                                   Asylbewerber in Frankfurt am Main picture alliance/dpa © Bereitgestellt von WELT

 

Ob in Syrien die Terrormiliz IS wütet, Afghanistan von den Taliban übernommen wird oder in Eritrea junge Männer für die Armee zwangsrekrutiert werden – ein Ergebnis ist ähnlich: Unter jenen, die vor diesen Zuständen aus ihren Ländern fliehen und dann nach Europa weiterziehen, kommt die größte Gruppe am Ende in Deutschland an. Einige Parteien und Beobachter meinen, dies könne auch an den hierzulande vergleichsweise hohen Sozialleistungen liegen, weswegen sie diese senken möchten. Und so brachten die Unionsfraktion sowie die AfD jeweils Anträge mit diesem Ziel in den Bundestag ein.

Dazu wurden am Montag Experten aus Forschung und Verbänden im Bundestag angehört, sie sollten darlegen, ob die Höhe der Sozialleistungen für Asylbewerber überhaupt einen Einfluss auf die Zuwanderung darstellt – und für welche Gruppen unter welchen Umständen eine Kürzung möglich wäre.

Vor den Fachpolitikern des Ausschusses für Arbeit und Soziales, trug zuerst Noa Kerstin Ha, wissenschaftliche Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung ihren Erkenntnisstand bei: Eine Reihe von Studien, die die These vom „Pull-Faktor“ stützten, sei „fehlerhaft“. Hingegen zeigten „methodisch hochwertige“ Studien, dass die Höhe von Sozialleistungen keinen merklichen Einfluss auf Migrationsentscheidungen habe.

Auch Vera Engenberger vom Deutschen Gewerkschaftsbund hält die Existenz von „Pull-Faktoren“, also Migrationsanreizen durch ansprechende Versorgung, für nicht belegt. Eine Verringerung der Sozialleistungen senke die Zuwanderung nicht. Engenberger stellte heraus, viel wichtiger als solche Debatten sei die Tatsache, dass Deutschland mehr zuwandernde Arbeitskräfte benötige und deshalb durch höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen mehr Menschen für eine Zuwanderung gewinnen solle.

Katharina Voss von der evangelischen Diakonie – dem nach der katholischen Caritas größten nicht staatlichen Arbeitgeber Deutschlands, der auch in der Asyl- und Integrationsbranche sehr aktiv ist – sagte: Auch bei den Ukrainern habe sich gezeigt, dass es keine Wanderungsbewegungen infolge von Sozialleistungskürzungen für Ukrainer in Tschechien oder Polen gegeben habe. Der „größte Pull-Effekt Deutschlands“ seien „Freiheit und Rechtsstaat“. Hingegen sei ein „Pull-Faktor“ durch Sozialleistungen nicht feststellbar.

Migrations-Professorin Karin Scherschel argumentierte, dass „die Communitys, die Wirtschaftskraft, die sozialen Rechte“ und vieles andere eine Rolle für Migrationsentscheidungen spiele, aber die Sozialleistungshöhe nur kaum. In „jedem Lehrbuch der Migrationsforschung wird die Theorie der Pull-Faktoren kritisiert“.

Sarah Lincoln von der Gesellschaft für Freiheitsrechte sieht es genauso und betonte, die geplante bundesweite Einführung von Bezahlkarten für Asylsuchende sei verfassungsrechtlich hoch bedenklich, etwa weil damit Einkäufe im Internet oder Nachbarlandkreisen erschwert würden oder auch das Bezahlen von Anwaltsrechnungen. Und: Die Senkung des Existenzminimums für Ausreisepflichtige, wie sie die Union vorschlage, sei verfassungswidrig, so Lincoln.

„Viele Mitgliedstaaten zahlen nur rudimentäre Leistungen“

Irene Vorholz vom Deutschen Landkreistag sagte, die geplante Bezahlkarte sei für Verwaltung wie für Betroffene ein Fortschritt. Ebenso wie die von der Regierung schon beschlossene Verzögerung der Gleichstellung von abgelehnten Asylbewerbern mit einheimischen Arbeitslosen auf 36 Monate, statt nach 18 Monaten, begrüße ihr Verband dieses Projekt.

Gregor Thüsing, der einen Lehrstuhl für das Recht der sozialen Sicherheit an der Uni Bonn innehat, rief die Politiker aller Fraktionen dazu auf, die Frage der Höhe von Sozialleistungen primär politisch zu beantworten und sich nicht auf die Position zurückzuziehen, dass die Verfassung oder das Verfassungsgericht diese Entscheidungen für die Politik treffe. Abgesehen vom physischen Existenzminimum sei aus seiner Sicht sehr viel politisch gestaltbar, sagte Thüsing.

Der Konstanzer Asylrechtler Daniel Thym argumentierte, dass viele Studien, die Kritiker der „Pull-Faktor“-These anführten, sich auf Zuwanderer im Allgemeinen bezögen und „uns wenig für das hier verhandelte Thema“ der Zuwanderung von Asylsuchenden sagten. Auch aus seiner Sicht seien zwar Sozialleistungsniveaus „nicht der relevanteste Faktor“, sie könnten „aber für die Frage der Sekundärmigration innerhalb der EU von Bedeutung sein“.

Für langfristig wünschenswert erachtet Thym eine „europäische Lösung“ des Problems unterschiedlicher Sozialversorgung und damit einhergehender Weiterwanderungen nach Deutschland: „Theoretisch wäre es möglich, die Höhe von Sozialleistungen während des Asylverfahrens und bei einer Ausreisepflicht auf europäischer Ebene vollständig zu harmonisieren.“ Ein solcher Schritt würde enge Vorgaben durch Urteile aus Karlsruhe verdrängen und wären auch mit dem Grundgesetz vereinbar.

Allerdings dürfte laut Thym ein solches Vorhaben auf EU-Ebene realpolitisch ausscheiden, weil Mitgliedstaaten mit niedrigen Sozialstandards sich vehement dagegen wehren würden, ihre Standards anzuheben. Das gelte erst recht bei Leistungen für Ausreisepflichtige. „Viele EU-Mitgliedstaaten zahlen diesen überhaupt keine beziehungsweise nur rudimentäre Leistungen.“

Konsequent zu Ende gedacht werde die Reform des EU-Asylrechts, so Thym, wenn langfristig mehrfache Asylanträge abgeschafft würden und es dauerhaft Sozialleistungen nur noch im zuständigen Land gäbe. „Das erforderte freilich eine erneute EU-Asylreform“, heißt es in seiner Stellungnahme.

Die jüngst beschlossene EU-Asylreform, über die das EU-Parlament in dieser Woche noch abstimmen wird, ändere daran nichts. Das Vorhaben, mehrfache Asylanträge zu verbieten, wie dies die EU-Kommission 2016 noch vorgeschlagen hatte, sei gescheitert