Asylmigration steigt auf Jahreshoch – 2023 schon mehr als 267.000 Anträge
32.000 Asylanträge meldet das Bundesamt für Migration im Oktober – die im laufenden Jahr bisher höchste Zahl. Eine stärkere Zuwanderung nach Deutschland als 2023 gab es nur in wenigen Jahren. Und trotz anderweitiger Ankündigungen bleibt es bei weitgehend offenen Grenzen für Asylbewerber.
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Bei der Zuwanderungslage zeichnet sich trotz Signalen der Bundesregierung zu einer robusteren Migrationssteuerung keine Entspannung ab. Im Gegenteil – im Oktober ist die Asylmigration noch einmal kräftig angestiegen: Fast 32.000 Erstanträge auf Asyl (31.887) wurden im zurückliegenden Monat laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gestellt, 14 Prozent mehr als im September. Das bedeutet einen Höchststand für das Jahr 2023. Man muss lange zurückschauen – nämlich bis in den September 2016 – um einen Monat mit einer noch höheren Antragszahl zu finden.
Im laufenden Jahr wurden damit bis Ende Oktober schon 267.384 Anträge gestellt, 68 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die größte Gruppe bilden auch in diesem Jahr die Syrer (88.000 Erstanträge, 66 Prozent mehr als 2022).
Die drastischste Zunahme ist bei Türken (45.000 Anträge, plus 200 Prozent) zu beobachten. Bürger des Bosporus-Staates stellen inzwischen noch vor den Afghanen (44.000, plus 66 Prozent) die zweitgrößte Asylzuwanderergruppe im laufenden Jahr.
Rund zwei Drittel aller Asylanträge entfallen im laufenden Jahr auf die drei genannten Nationalitäten. Danach folgen Iraker (9484), Iraner (8225) Georgier (7644), Bürger der Russischen Föderation (6460), Somalier (4366) und Eritreer (3615).
Immer häufiger kommen türkische Familien
Im Oktober hatten Türken sogar bis kurz vor Monatsende die meisten Anträge beim BAMF gestellt. Ihre Anerkennungsquote liegt laut der Migrationsbehörde in diesem Jahr bei nur 14 Prozent, doch auch die Abgelehnten werden – wie es bei allen nichteuropäischen Asylherkunftsländern der Fall ist – meist nicht abgeschoben. Nur 345 abgelehnte Asylbewerber oder wegen schwerer Straftaten und anderer Gründe ausreisepflichtig gewordene Türken wurden im ersten Halbjahr 2023 laut Zahlen des Bundesinnenministeriums in ihre Heimat zurückgebracht.
Laut Landesbeamten sind unter den ankommenden Türken immer häufiger Familien mit Kindern, und nicht – wie in der Vergangenheit – überwiegend allein reisende Männer. Es handele sich häufig offensichtlich nicht um Personen mit Aussicht auf Asyl, sondern um Menschen, die nach dem Sieg der Erdogan-Partei AKP und wegen der Wirtschaftsschwäche ihres Landes nach Deutschland auswandern möchten.
Informationen aus einer internen Migrationslagebesprechung verschiedener Bundesministerien zufolge sollen in diesem Jahr bereits ungefähr 60.000 Türken nach Serbien geflogen sein, wohin sie visumfrei einreisen dürfen
dürfen. Von dort ziehen den Informanten zufolge viele nach Deutschland und andere beliebte Asylzuwanderungsländer weiter.
Türken reisen wie Syrer und die übrigen Asylsuchenden überwiegend unerlaubt aus sicheren Nachbarländern in die Bundesrepublik ein. Nach dem seit Jahren geltenden, aber kaum umgesetzten EU-Asylsystem müssten sie in der Regel wieder in den für sie zuständigen Staat zurückgebracht werden, was nur wenige Tausend Male pro Jahr gelingt. Dennoch verzichtet die aktuelle Regierung wie die vorige weitgehend darauf, diese unerlaubten Weiterreisen von bereits geschützten Schutzsuchenden durch Zurückweisungen zu unterbinden.
Im Beschluss des Asylgipfels der Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers vom Dienstag findet sich diesbezüglich folgende Ankündigung: „Das Weiterziehen von Flüchtlingen innerhalb der EU muss konsequent verhindert werden. Soweit Binnengrenzkontrollen erfolgen, nutzt die Bundespolizei diese schon jetzt dazu, Flüchtlinge, die aus einem anderen EU-Mitgliedstaat einreisen, an der deutschen Grenze entsprechend den rechtlichen Grundlagen zurückzuweisen.“
Auf WELT-Anfrage an das Bundeskanzleramt, ob nun tatsächlich bei der unerlaubten Einreise aufgegriffene Asylsuchende offiziell zurückgewiesen werden, dementiert ein Sprecher: „Schutzbegehrende Drittstaatsangehörige sind grundsätzlich an die zuständige Erstaufnahmeeinrichtung zum Zwecke der Prüfung asylrechtlicher Belange einschließlich etwaiger Überstellungen in andere EU-Mitgliedstaaten nach Maßgabe der Dublin-Verordnung weiterzuleiten.“ Es bleibt also entgegen der irreführend formulierten Passage im Beschlusspapier bei weitgehend offenen Grenzen für Asylbewerber.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lobte den Beschluss dennoch als „sehr historischen Moment“. Schon vor einem Monat, als es Fortschritte bei der Einigung auf eine EU-Asylreform zu vermelden gab, kündigte der Kanzler an, die für nächstes Jahr geplante Verabschiedung der EU-Asylreform werde „ein historischer Wendepunkt“ und „Deutschland dauerhaft entlasten“.
Ungeachtet dieser Rhetorik zeichnen sich derzeit keine Verringerung der illegalen Einreisen in die EU, kein Rückgang der unerlaubten Weiterreisen innerhalb Europas nach Deutschland oder eine relevante Steigerung der Abschiebungen ab.
Eine offene Frage bei der EU-Asylreform
Die Ampel-Bundesregierung und auch die Ministerpräsidenten setzen große Hoffnungen auf die für kommendes Jahr geplante EU-Asylreform. Zentrum der Pläne ist, dass illegal einreisende Asylsuchende aus Staaten mit geringer Anerkennungschance ihr Asylverfahren an der EU-Außengrenze durchlaufen sollen; fast jeder Migrant, der bei der unerlaubten Einreise in einen europäischen Staat erwischt wird, äußert ein Asylgesuch.
Im Falle einer Ablehnung sollen Migranten direkt abgeschoben werden. Wie aber etwa jene nicht schutzberechtigten Türken nach der EU-Asylreform – falls sie denn kommt – plötzlich im großen Stil aus Griechenland, Bulgarien oder – nach einer illegalen Weiterreise – aus Deutschland in die Türkei gebracht werden sollen, ist völlig unklar.
Der Migrationsforscher Ruud Koopmans warnte kürzlich im Interview mit WELT AM SONNTAG, ein Aufschieben wirksamer Asylreformen beschädige die Demokratie. „Wenn über drei Jahrzehnte eine Bevölkerungsmehrheit eigentlich Kontrolle über die Zuwanderung möchte, die Parteien dies aber nicht schaffen und keine anständige Reform auf die Beine stellen, verlieren die Menschen das Vertrauen. Im Ergebnis haben wir eine demokratische Nachfrage nach einem Produkt X, das systematisch über Jahrzehnte nicht geliefert wird. Das führt zu einer Krise der Demokratie.“
Eine stärkere Asylzuwanderung als 2023 gab es in der Geschichte der Bundesrepublik nur in vier Jahren: auf dem Höhepunkt der Migrationskrise 2015/2016 sowie während der Jugoslawienkriege 1992 und 1993. Deutschlands Aufnahme-Infrastruktur ist wegen der im vergangenen Jahr rund eine Million ohne Asylverfahren aufgenommenen Ukraine-Flüchtlinge zusätzlich stark belastet.