Migration: Europa schaut auf die Grünen

Artikel von Von Josef Kelnberge S.Z 

Innenministerin Faeser (li.) verhandelt auf EU-Ebene die Migrationspolitik, für Deutschlands Blockade sind aber Baerbocks (re.) Grüne verantwortlich.

Innenministerin Faeser (li.) verhandelt auf EU-Ebene die Migrationspolitik, für Deutschlands Blockade sind aber Baerbocks (re.) Grüne verantwortlich. © Florian Gaertner/Imago

Nancy Faeser sitzt am Tisch, wenn die Innenminister in Brüssel darüber beraten, warum es mit der großen Asylreform nicht vorangeht. Aber die Antworten müsste Außenministerin Annalena Baerbock geben.

Europa schaut auf die Grünen

Annalena Baerbock ist in der Bundesregierung für Äußeres zuständig, nicht für Inneres. Das ist Nancy Faesers Sache. Dennoch wird Baerbock (Grüne) an diesem Donnerstag neben Faeser (SPD) unsichtbar mit am Tisch setzen, wenn die Innenministerinnen und Innenminister in Brüssel über dringende Migrationsfragen in der Europäischen Union beraten. Ein wichtiges Thema auf der Agenda: Die Arbeit an der großen europäischen Asylrechtsreform, dem Vorzeigeprojekt der europäischen Migrationspolitik, liegt derzeit auf Eis, und zwar wegen einer deutschen Blockade, für die die Grünen verantwortlich sind, Baerbocks Partei. Und Annalena Baerbock hat mit ihren jüngsten Äußerungen in Brüssel für mehr für Verwirrung als für Aufklärung gesorgt.

Der Streit dreht sich um die sogenannte Krisenverordnung, den letzten großen Baustein der Asylreform. Baerbock erklärt den Widerstand der Grünen jetzt damit, diese Verordnung biete Staaten wie Italien oder Griechenland noch mehr Anreiz, unregistrierte Flüchtlinge nach Deutschland weiterzuschicken. Das ist ein gänzlich neues Argument. Bislang hatten die Grünen ihr Veto damit begründet, sie wollten verhindern, dass geflüchtete Menschen in den Asylverfahren noch mehr Rechte verlieren als bislang schon geplant.

Schielen die Grünen auf die Landtagswahlen im Oktober?

Unter den Diplomaten, die im Namen ihrer Mitgliedsländer in Brüssel die Reform beraten, wird die Wende vorwiegend als innenpolitisches Manöver gewertet: Die Grünen wollten ihrer Basis vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen am 8. Oktober weitere Zumutungen in der Asylpolitik ersparen - und zugleich den Eindruck erwecken, es gehe ihnen vor allem darum, die Zahl der nach Deutschland kommenden Migranten zu begrenzen.

Tatsächlich ist die Krisenverordnung nicht "nachträglich" auf die Agenda gekommen, wie Baerbock nahelegt. Sie war von Anfang an Teil der Gesetze, die die EU-Kommission vorgelegt hat und die in abschließenden Verhandlungen zwischen Mitgliedsländern und Europaparlament im Paket beschlossen werden sollen.

Für Staaten wie Italien und Griechenland ist die Krisenverordnung untrennbar verbunden mit der spektakulären Reform der Asylverfahren, über die man sich im Juni in Luxemburg im Grundsatz verständigte: Die Staaten an den Außengrenzen sollen künftig im Schnellverfahren über Anträge von Asylbewerbern entscheiden, die aus Ländern mit geringer Anerkennungsquote (unter 20 Prozent) kommen. Diese Menschen sollen bis zur Entscheidung in Lagern festgehalten und schnell wieder abgeschoben werden.

Annalena Baerbock hat im Namen der Grünen zugestimmt, obwohl auch Familien mit Kindern in den Lagern festgehalten werden könnten, was in der Partei heftigen Wirbel auslöste. Auch deshalb legte sie wohl ihr Veto ein, als einige Wochen später im Rat der Mitgliedsländer über eine von der spanischen Ratspräsidentschaft erarbeitete, gemeinsame Position zur Krisenverordnung abgestimmt wurde. Die deutsche Regierung enthielt sich der Stimme, weshalb die erforderliche qualifizierte Mehrheit (etwa zwei Drittel) nicht zustande kam.

Deutschland sitzt in einem Boot mit Staaten, die noch härtere Regeln fordern

Die Krisenverordnung sieht Regeln für den Fall vor, dass Staaten überlastet sind von

der Migrationssituation - zum Beispiel, wenn Migranten von anderen Staaten "instrumentalisiert" werden, um die EU unter Druck zu setzen. Im Krisenfall sollen die Rechte der Geflüchteten noch einmal massiv eingeschränkt werden. Es könnten noch mehr Menschen in Lagern festgehalten werden, bis zu 40 Wochen lang. Allerdings können die Staaten den Krisenfall nicht im Alleingang ausrufen, wie die Äußerungen von Baerbock vermuten lassen. Die anderen Mitgliedsländer müssten zustimmen, die Kommission würde darüber wachen.

Es ist nicht zu erwarten, dass Nancy Faeser am Donnerstag im Namen der Ampel Kompromissbereitschaft signalisieren kann. Eine Abstimmung ist bislang nicht vorgesehen. Deutschland sitzt weiterhin in einem Boot mit den Regierungen in Ungarn, Polen, Tschechien und Österreich, die noch härtere Regeln für den Krisenfall fordern oder gar jegliche europäische Standards im Umgang mit Migranten ablehnen. Die spanische Ratspräsidentschaft hat es bislang nicht geschafft, andere Mehrheiten zu organisieren. Und das Europaparlament hat seine Drohung wahr gemacht: Wenn die Mitgliedstaaten nicht zu allen Punkten der Asylrechtsreform gesprächsbereit sind, gibt es gar keine Verhandlungen mehr. Die Gespräche liegen auf Eis, der Druck auf die deutsche Regierung wächst, und auch die Spannungen innerhalb der Ampel dürften wachsen.

Maßgebliche Grüne im Europaparlament setzen nach wie vor darauf, dass das ganze Asylpaket aufgeschnürt wird und bis zur Europawahl im nächsten Jahr nur einzelne Teile verabschiedet werden - vor allem jene, die sich mit der Registrierung und der Sicherheitsüberprüfung von Migranten befassen. Sie lehnen Asyl-Schnellverfahren ebenso ab wie die Regeln der Krisenverordnung. Es ergebe gar keinen Sinn, einzelne Gesetze zu verhandeln, sagt dagegen Jan-Christoph Oetjen, der migrationspolitische Sprecher der FDP im Europaparlament. Am Ende würden Länder wie Italien und Griechenland sich verweigern, wenn nicht auch der Krisenfall geregelt sei.

Der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai bezeichnete die Grünen wegen ihrer "Blockaden" zuletzt als "Sicherheitsrisiko". So weit würde er in der Wortwahl nicht gehen, sagt sein Parteikollege Oetjen. Aber die Argumente, die Annalena Baerbock nun gegen die Krisenverordnung vorlegt, halte er für "vorgeschoben". Die Grünen stünden mit in der Verantwortung, das ganze Asylpaket bis zur Europawahl auf den Weg zu bringen. Und die Zeit werde knapp.

der Migrationssituation - zum Beispiel, wenn Migranten von anderen Staaten "instrumentalisiert" werden, um die EU unter Druck zu setzen. Im Krisenfall sollen die Rechte der Geflüchteten noch einmal massiv eingeschränkt werden. Es könnten noch mehr Menschen in Lagern festgehalten werden, bis zu 40 Wochen lang. Allerdings können die Staaten den Krisenfall nicht im Alleingang ausrufen, wie die Äußerungen von Baerbock vermuten lassen. Die anderen Mitgliedsländer müssten zustimmen, die Kommission würde darüber wachen.

Es ist nicht zu erwarten, dass Nancy Faeser am Donnerstag im Namen der Ampel Kompromissbereitschaft signalisieren kann. Eine Abstimmung ist bislang nicht vorgesehen. Deutschland sitzt weiterhin in einem Boot mit den Regierungen in Ungarn, Polen, Tschechien und Österreich, die noch härtere Regeln für den Krisenfall fordern oder gar jegliche europäische Standards im Umgang mit Migranten ablehnen. Die spanische Ratspräsidentschaft hat es bislang nicht geschafft, andere Mehrheiten zu organisieren. Und das Europaparlament hat seine Drohung wahr gemacht: Wenn die Mitgliedstaaten nicht zu allen Punkten der Asylrechtsreform gesprächsbereit sind, gibt es gar keine Verhandlungen mehr. Die Gespräche liegen auf Eis, der Druck auf die deutsche Regierung wächst, und auch die Spannungen innerhalb der Ampel dürften wachsen.

Maßgebliche Grüne im Europaparlament setzen nach wie vor darauf, dass das ganze Asylpaket aufgeschnürt wird und bis zur Europawahl im nächsten Jahr nur einzelne Teile verabschiedet werden - vor allem jene, die sich mit der Registrierung und der Sicherheitsüberprüfung von Migranten befassen. Sie lehnen Asyl-Schnellverfahren ebenso ab wie die Regeln der Krisenverordnung. Es ergebe gar keinen Sinn, einzelne Gesetze zu verhandeln, sagt dagegen Jan-Christoph Oetjen, der migrationspolitische Sprecher der FDP im Europaparlament. Am Ende würden Länder wie Italien und Griechenland sich verweigern, wenn nicht auch der Krisenfall geregelt sei.

Der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai bezeichnete die Grünen wegen ihrer "Blockaden" zuletzt als "Sicherheitsrisiko". So weit würde er in der Wortwahl nicht gehen, sagt sein Parteikollege Oetjen. Aber die Argumente, die Annalena Baerbock nun gegen die Krisenverordnung vorlegt, halte er für "vorgeschoben". Die Grünen stünden mit in der Verantwortung, das ganze Asylpaket bis zur Europawahl auf den Weg zu bringen. Und die Zeit werde knapp.

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In Berlin wird ein Mann krankenhausreif geschlagen – nach bisherigem Ermittlungsstand der Polizei, weil er als Nichtmuslim eine islamische Gebetsmütze trug. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, macht daraus einen „klassisch islamfeindlichen Akt“.

Sonntagabend in Berlin-Neukölln, ein Mann bestellt sich in einem Lokal in der Schillerpromenade ein Bier. Der 34-jährige Deutsche ist kein Muslim, trägt aber eine islamische Gebetsmütze als modisches Accessoire. Plötzlich treten zwei Männer an ihn heran. Einer der beiden entreißt ihm die Kopfbedeckung, fordert ihn auf, sich vorher zu überlegen, welche Mütze er trägt – und schlägt ihm mit der Faust mehrfach ins Gesicht.

Davon geht die Berliner Polizei nach bisherigem Ermittlungsstand aus, wie sie am Montag meldete. „Gestern Abend wurde in Neukölln ein Mann offenbar aus religiösen Gründen krankenhausreif geschlagen“, heißt es in der Polizeimeldung über eine „Körperverletzung mit religiösem Hintergrund“. Der 34-Jährige sei von Rettungskräften mit einer gebrochenen Nase, einer Platzwunde an der Lippe und einem gelockerten Zahn ins Krankenhaus gebracht worden. Der Polizeiliche Staatsschutz im Landeskriminalamt ist eingeschaltet.

Aus der Meldung wird deutlich: Zwei muslimische Fundamentalisten hielten wohl nichts davon, dass ein Nichtmuslim eine islamische Gebetsmütze trägt – und schlugen deshalb mehrfach zu. „Offenbar aus fanatisch-religiösen Gründen“, berichtete der „Tagesspiegel“. Im „Spiegel“ hieß es lediglich, dass ein Mann „offenbar wegen seiner islamischen Gebetsmütze“ verprügelt worden sei.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, hatte schnell nach den ersten Meldungen eine eigene Interpretation. Von einem „klassisch islamfeindlichen Akt“ schrieb er auf der Plattform X (vormals Twitter). Das Opfer sei schließlich „muslimisch gelesen“ worden. „Wer das nicht versteht; erst nachdenken, dann schreiben“, schrieb Mazyek weiter – und setzte den Hashtag #AntimuslimischerRassismus.

Der Islamverbandsfunktionär macht aus einem möglicherweise islamistisch motiviertem Übergriff eine antimuslimische und rassistische Gewalttat – und instrumentalisiert den Vorfall damit für seine Interessen. Mazyek postete dazu den Text aus dem „Spiegel“, aus dem die Hintergründe ebenfalls nicht klar hervorgehen. Vor seiner deutlichen Einschätzung sah er sich aber offensichtlich weder die Originalquelle – also die Pressemeldung der Berliner Polizei – an, noch hielt er es für möglich, dass es sich bei den Tätern um fundamentalistische Muslime handelt.

Gründungsmitglied und größter Mitgliedsverband des Zentralrats der Muslime ist die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa (Atib), die vom Bundesamt für Verfassungsschutz den türkisch-rechtsextremen Grauen Wölfen zugerechnet wird.

Mitglied in Mazyeks Zentralrat ist auch das Islamische Zentrum Hamburg, laut Verfassungsschutz ein „bedeutendes Propagandazentrum des Iran in Europa“. Sogenannte legalistische Islamisten nutzen tatsächliche Diskriminierungserfahrungen von Muslimen in Deutschland als Mobilisierungsthema für ihre Propaganda.

„Dann hat Mazyek Täter und Opfer umgekehrt“

Die Autorin Sineb El Masrar, die sich in ihrer Arbeit seit vielen Jahren kritisch mit konservativ-orthodoxen Islamverbänden beschäftigt, kritisiert Mazyek deutlich. „Obwohl bei diesem furchtbaren Vorfall noch einiges unbekannt ist, werden gerade in islamistischen und dem Islamismus gegenüber unkritischen Kreisen die Opfer von schwerer Gewalt für unseriöse Kampagnen im Namen des sogenannten antimuslimischen Rassismus instrumentalisiert“, sagte El Masrar WELT. „‚Erst nachdenken, dann schreiben‘, das sollte Herr Mazyek einfach selbst beherzigen.“

Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) verweist im Gespräch mit WELT darauf, dass allein in den vergangenen Wochen in Berlin neben der aktuellen Gewalttat gegen den Mann mit der Gebetsmütze ein Hebräisch sprechender Tourist, ein lesbisches Paar und ein schwuler Mann brutal zusammengeschlagen wurden. „Das ist eine erschreckende Gewaltserie, die zeigt, dass freiheitliche Werte im Alltag regelmäßig angegriffen werden“, sagte Hikel. „Jedem Neuköllner muss klar sein, dass in einem freiheitlichen Land die individuelle Freiheit und Lebensführung der Einzelnen nicht angegriffen werden dürfen.“

Der Kommunalpolitiker übt ebenfalls Kritik an der Instrumentalisierung der neuen Gewalttat. „Sollte die Darstellung der Polizei zutreffen und die Täter waren tatsächlich muslimische Fundamentalisten, hat Aiman Mazyek mit seiner voreiligen Stellungnahme Täter und Opfer umgekehrt“, sagte Hikel. „Ich plädiere nach solchen Vorfällen für Besonnenheit, wenn man sich verantwortungsvoll äußern will.“

Mazyek löschte nach einer WELT-Anfrage sein Online-Posting, reagierte aber nicht auf Fragen hierzu. Auf der Plattform X stellte er seine Falschbehauptung nach der Löschung nicht klar und postete auch keinen Kommentar zu dem möglicherweise islamistisch motivierten Angriff.