Das Massaker von Sivas-Madımak
Am 2. Juli 1993 kam es in der anatolischen Stadt Sivas zu einem Attentat, bei dem es viele Verletzte und 35 Tote gab. Im Grunde ist ein Hotel angezündet worden, weil sich dort überwiegend Aleviten befanden. „Das war eine ganz klare Ansage, dass man keine Aleviten in der Stadt haben will – und das in Sivas. Das war regelrecht ein Massenmord“, erinnert sich heute Sevval Büryani zurück. Die Alevitin hat die Ereignisse aus nächster Nähe verfolgt und kann sich noch heute an jeden Augenblick erinnern. „Während einige Attentäter mehrere Brandsätze gegen das Hotel schleuderten, das aus Holz gebaut war, versperrte eine wütende Menschenmenge, die sich vor dem Hotel versammelt hatte, vielen der Eingeschlossenen in dem brennenden Hotel den Weg ins Freie“, schildert Cemil Kozalak den Tathergang präzise. Kozalak war an jenem Tag vor Ort. „Das war nicht nur von einem Mob geplant, da steckte eine Systematik drin, die sich nicht zufällig ereignet hat!“, ist Kozalak überzeugt.
Dabei nahmen die Brandstifter in Kauf, dass auch Sunniten, also Vertreter der religiösen Mehrheit in der Türkei, unter den Opfern waren. Denn für die Täter hatten die Sunniten, die mit Aleviten eine gemeinsame Veranstaltung besuchten, diese Strafe verdient. Sevval Büryani kennt die Argumentation der Attentäter, auch von kürzlichen Gesprächen: „Wie können diese Sunniten mit den Aleviten, oder mit diesem Ketzer Aziz Nesin zusammen sein und eine gemeinsame Veranstaltung machen? Der Koran sagt, setze dich nicht mit denjenigen an einen Tisch, die Alkohol trinken und die Gebote des Glaubens nicht befolgen.“ Leute, die mit Aleviten, Reformorientierten, Liberalen, dialogbereiten Menschen Gespräche führen, Freundschaften schließen und gemeinsame Sache machen, sind demnach genauso unwertes Leben – eine Argumentation, die heute auf die Terrormiliz IS hindeuten würde.
In der damaligen politisch und religiös aufgeheizten Stimmung wurden Aleviten von vielen als Ungläubige, also als Nicht-Muslime bezeichnet. Sie wurden verachtet, weil man ihnen sogar vorwarf, vom rechten Glauben abgefallen zu sein. Die Gemeinschaft der Aleviten besteht zwar aus einer Reihe von unterschiedlichen Richtungen, aber die Zahl derer, die sich eindeutig als Teil der islamischen Gemeinschaft sehen, ist überwältigend hoch. Diese bekennen sich zu einem einzigen Gott und zum Propheten Muhammad. Einzig zur Rechtsnachfolge Muhammads haben sie eine andere Meinung als die Sunniten. Sie sind überzeugt, dass dessen Schwiegersohn Ali direkter Nachfolger hätte sein müssen.
Nach dem Anschlag von Sivas war die türkische Gesellschaft damals im Ausnahmezustand. In breiten Teilen der Bevölkerung löste der Vorfall eine Welle der Beileidsbekundung aus. In der „Europäischen Sivas Union“ haben sich Sunniten und Aleviten zusammengeschlossen, um zur Verständigung zwischen diesen beiden Religionsgruppen beizutragen. Der Präsident dieser Union ist Rüştü Elmas, er stammt selbst aus Sivas und ist Sunnit. „In keiner Religion kann es akzeptiert werden, dass unschuldige Menschen getötet werden. Das ist eine Tragödie. Auch ich habe mich als ein Sivasstämmiger und Sunnit schuldig gefühlt und sehr geschämt.“ Für Elmas ist klar, dass die Stadt Sivas damals ganz bewusst als Anschlagort ausgesucht wurde. „Leider passieren solche Vorfälle aus politischen Gründen. Es ist keinesfalls ein Krieg der Sivas-Bevölkerung, sondern das haben politisch-interessierte Leute nach Sivas getragen. Weil in Sivas traditionell seit Jahrhunderte Aleviten und Sunniten friedlich zusammenleben.“
An der Stelle des abgebrannten Hotels Madımak steht heute ein Museum. Hier treffen sich jährlich Sunniten und Aleviten und gedenken gemeinsam der schrecklichen Tat von damals. Inzwischen ist das Verhältnis zwischen den beiden Religionsgruppen in der Türkei insgesamt entspannter geworden. Dennoch leben die Aleviten in der Türkei heute stellenweise unter Beobachtung. Nach wie vor werden ihre Gebetshäuser mit den Moscheen rechtlich nicht auf die gleiche Ebene gestellt. In diesem Sinne gibt es keine Verschlechterung, aber auch keine wirkliche Verbesserung der Zustände.