„Das Land braucht mehr als Willkommenskultur“
Die Studie „ZuGleich“ untersucht unter anderem die Zustimmung der Gesellschaft zu Migration und Integration. In den vergangenen Jahr sank die Akzeptanz für Zuwanderung. Die Wissenschaftlerin Zeynep Demir erläutert im DTJ-Online-Interview die Gründe.
Eine Kernerkenntnis Ihrer Studie „Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit“ lautet: Beim Konfliktthema Migration sinkt der Anteil der Menschen, die Integration für den richtigen Weg halten. Warum?
Die Mehrheit der Befragten spricht sich für die Integration aus. Unter Eingewanderten ist der Anteil wie in den Vorjahren stärker. Aber noch 34 Prozent derer, die nie eingewandert sind, erwarten eine Assimilation, also die Teilhabe bei gleichzeitiger Aufgabe kultureller Identitäten. Insgesamt sinkt die Befürwortung der Integration zwischen den Jahren 2014, 2016 und 2021. Die Konflikte um Fragen von Migration und Integration drücken sich in den Vorstellungen der Bürger deutlich aus. Teilhabe ja, aber bei der Akzeptanz von kulturellen Eigenheiten ist der Zuspruch begrenzt – und genau das erklärt den Rückgang der Integrationsbefürwortung.
Welche Migrationsbiografien haben die Protagonist:innen Ihrer Studie?
In unserer Studie haben 32,2 Prozent der Befragten eine Migrationsbiografie. Wir haben bei der Zusammensetzung sehr viele verschiedene ethnische Hintergründe berücksichtigt. Der größte Anteil setzt sich aber aus Menschen mit türkischer Herkunft zusammen.
„Zunahme des Rechtspopulismus“ wichtiger Faktor
Die kulturellen Eigenschaften der Neuankömmlinge zu respektieren sowie ihre Gleichwertigkeit anzuerkennen, daran hapert es ihrer Studie zufolge. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum viele Befragte der Überzeugung sind, dass Migrant:innen ihre kulturelle Prägung aufgeben sollten?
Eine Erklärung hierfür wäre, dass die politischen Auseinandersetzungen und die starke Zuwanderung in den Jahren 2015 und 2016 und die Zunahme des Rechtspopulismus deutliche Spuren auf die Einstellungen der Bürger:innen in Fragen der kulturellen Anpassung hinterlassen haben. Das Verständnis von Vielfalt ist in einer Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland ein wichtiger Baustein der Integration und kann aus unserer Perspektive noch besser gefördert werden.
Welchen Einfluss hatte die Corona-Pandemie und ihre Begleiterscheinungen auf die Ergebnisse Ihrer Studie?
Die Auswertung der Daten zeigt, dass mit der Corona-Pandemie die Zustimmung zu einer Willkommenskultur wieder zunimmt. Die meisten Befragten begrüßen es, wenn Einwandernde sich für Deutschland entscheiden. Mehr als 60 Prozent freuen sich, dass Deutschland vielfältiger und bunter wird. Jede fünfte befragte Person lehnt dies hingegen ab. Insgesamt sehr wir, dass die Pandemie einen Einfluss auf die Einstellungen zur Migration haben kann. Wir benötigen weitere Studien, die den Migrationsaspekt mitberücksichtigen, wenn Einstellungen während der Pandemie untersucht werden.
Bildung und Alter entscheidend
In der Studie ist von einer „Kultur der Abwehr“ zu lesen. Sie sehen eine deutliche Zunahme bei der Abwertung von Geflüchteten. Was folgt für die Politik daraus?
Helfen könnte aus unserer Sicht eine zugewandte Einwanderungspolitik, die das Ankommen stärkt und den Prozess des Ankommens unterstützt, zum Beispiel durch Bildung und Kommunikation. Schulische und außerschulische Bildung zu Grundfragen von Migration und Akkulturation müssen gestärkt werden. Sie könnte vermitteln, wie sich Menschen Kulturen aneignen und sich Gesellschaften gemeinsam ändern. Und mit dem Blick auf zukünftige Migrationsbewegungen in Deutschland braucht das Land mehr als Willkommenskultur. Es müssen Konzepte bestehen, wie Menschen in einer vielfältigen Gesellschaft ankommen.
Welche Rolle spielen Geschlecht und Bildung auf die Einstellung der Befragten?
Wir sehen in unseren Analysen, dass Bildung, aber auch das Alter mit den Einstellungen der Befragten einhergehen kann. Zum Beispiel können wir sagen, dass jüngere Befragte sich stärker für eine gegenseitige Annäherung aussprechen als ältere. Außerdem zeigt die Studie, dass je höher das Bildungsniveau der Befragten ist, desto stärker auch deren Zustimmung zur Integration ausfällt. Befragte mit einem hohen Bildungsgrad weisen im Vergleich zu weniger Gebildeten signifikant häufiger eine positive Haltung zur Willkommenskultur auf. Bildung scheint als soziodemographisches Merkmal einen sehr großen Einfluss auf die Einstellungen zu haben. Bezogen auf das Geschlecht zeigen sich keine signifikanten Unterschiede.
„Es braucht mehr als Lippenbekenntnisse“
Gibt es weitere Trends, die sich aus Ihrer Studie ableiten lassen?
Wir konnten in unserer Studie eine besorgniserregende Zahl beobachten: 33 Prozent der Befragten, die nach Deutschland eingewandert sind, geben an, sehr oft oder oft rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt zu sein. Wenn politisch nur auf Teilhabe in Arbeit und Bildung gesetzt wird, gerät die gemeinsame Akzeptanz von Vielfalt und Identitäten jenseits nationaler Grenzen als Motoren des Zusammenlebens aus dem Blick. Um die Gesellschaft mitzunehmen und die Realität von Vielfalt nicht in schädigende Konflikte geraten zu lassen, braucht es mehr als Lippenbekenntnisse zur Einwanderungsgesellschaft.
Können Sie das näher erläutern?
Zu oft entbrennen über die Frage der Kultur unnötige Konflikte, die mit Herabwürdigungen von Minderheiten oder Hasstaten einhergehen. Anderen wird eine kulturelle Differenz unterstellt, die an den Realitäten vorbeigeht. Zum Beispiel wird Einwanderern unterstellt, sie würden sich nicht mit Deutschland identifizieren. Unsere Studie ergibt aber: Gerade einmal fünf Prozent der eingewanderten Befragten identifizieren sich nur mit ihrem Herkunftsland.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zeynep Demir ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und arbeitete an der Studie „ZuGleich – Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit“ mit.
Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wieder.