Wie die „Gastarbeiter“ der ersten Stunde Deutschland erlebten

 
 
 
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Duisburg: Selahattin Civelek (l.), 71 Jahre, Gastarbeiter seit 1973, und Şerafettin Tüzün (r.), 81 Jahre, seit 1964 in Deutschland, sitzen auf dem Sofa. In der Mitte steht Saadettin Tüzün. Foto: Federico Gambarini/dpa

Sie kamen nur mit dem Allernötigsten – über das Anwerbeabkommen mit der Türkei vom Oktober 1961. Die „Gastarbeiter“ nahmen harte Arbeit und karge Umstände hin. Zwei von ihnen berichten von guten Löhnen, sozialer Isolation – und „dreckiger Arbeit“.

Nur einen Koffer mit Lebensmitteln und etwas Wäsche hatte er dabei. Im Oktober 1964. Drei Tage brauchte Şerafettin Tüzün mit dem Zug von Istanbul nach München. Dann weiter im Bus nach Köln. „Ich wollte unbedingt nach Deutschland. Arbeiten“, erzählt der 81-Jährige heute.

Als er ins übervolle Abteil stieg, war er 24, konnte kein Wort Deutsch. Wie insgesamt Hunderttausende Landsleute in diesen Zeiten hoffte er auf „Almanya“, wo die Wirtschaft boomte und man händeringend Arbeitskräfte suchte. Das deutsch-türkische Anwerbeabkommen war drei Jahre zuvor geschlossen worden – und jährt sich nun am 30. Oktober zum 60. Mal.

„Tut mir leid, die Wohnung ist schon weg“

„Es war sehr hart. Schwere Metallarbeit, am Schleifband“, schildert Tüzün, bedächtig, lächelnd. Er schuftete ein Jahr in den Motorenwerken von Klöckner-Humboldt-Deutz. „Ich wohnte im Ledigenheim. Wir waren vier Leute in einem Zimmer.“

Die Miete wurde vom Lohn abgezogen. 110 D-Mark pro Woche verdiente Tüzün. Danach heuerte er in einer Stahlhütte in Hattingen an, suchte dort vergeblich eine Wohnung, um die Familie nachzuholen. „Aber sie wollten keine Ausländer, sagten immer: Tut mir leid, die Wohnung ist schon weg.“

Plackerei ohne Schutzvorkehrung

Tüzün stammt aus der Schwarzmeerstadt Sinop, hatte Militärdienst und Textilfabrik hinter sich, lebte in Armut, bevor er sich entschloss, sein Glück im unbekannten Deutschland zu versuchen.

Seit 1955 hatte die Bundesrepublik Anwerbeabkommen mit mehreren Ländern geschlossen, am 30. Oktober 1961 mit Ankara. Regionen wie das Ruhrgebiet waren Motor des Wirtschaftswunders, viele „Gastarbeiter“ waren unter Tage oder in Fabriken eingesetzt. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren extrem.

Plackerei ohne Schutzvorkehrung, Demütigung und Ausbeutung hatte Undercover-Reporter Günter Wallraff 1985 im Bestseller „Ganz Unten“ angeprangert. Dafür hatte er zwei Jahre als vermeintlicher türkischer Arbeiter Ali malocht.

„Viele sagten: ‚Du musst kommen'“

Selahattin Civelek kam 1973. In Izmir hatte er eine Autolackiererei. „Aber ich hatte viele Bekannte in Deutschland, die gesagt haben: Du musst kommen. In Deutschland liegt das Geld auf der Straße.“ Als 21-Jähriger landete er in Duisburg, wurde Stahlarbeiter bei Thyssen.

„Ich habe im Stahlstaub gearbeitet, am Stahlofen, ohne Schutzmaske. Wir haben richtig Gas drin gehabt in der Halle. Es war heiß, sehr laut“, berichtet der heute 71-Jährige. Ihm platzte das rechte Trommelfell. „Meine Lungen sind kaputt, mein Ohr ist kaputt.“

Civelek wirkt dennoch zufrieden, stolz auf das Erkämpfte. „Ich dachte erst, ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht. In der Türkei war ich Boss, in Deutschland war ich Arbeiter. Alle Türken haben hier nur dreckige Arbeit gemacht.“ Sein Antrieb: „Ich wollte, dass meine Familie gut lebt.“

Nur vier Stunden Schlaf

Frau und Tochter holte er nach einem Jahr nach Duisburg, zwei weitere Kinder kamen zur Welt. „Ich habe sehr geschuftet, nebenbei auch noch in einer Lackiererei, nur vier Stunden geschlafen“. Nachts lernte er deutsche Vokabeln. Er war fix, fiel auf, wurde Vorarbeiter. „Da habe ich 60 Pfennig mehr verdient pro Stunde.“

Tüzün hatte derweil bei der Bahn angefangen, reinigte seit 1968 Abteile im Schichtdienst – und blieb dabei bis zur Rente im Jahr 2000. Er erinnert sich noch genau, wie schmerzlich er Frau und Töchter vermisste, jeden Pfennig ansparte, um ihnen fast seinen ganzen Lohn zu schicken. Die Bahn verschaffte ihm endlich eine Wohnung, 1969 kamen seine Liebsten. Und wo ist nun seine Heimat?

Wenig Kontakt zu Deutschen

„Die Türkei ist auch mein Zuhause. Aber hier ist es gut, meine Familie ist hier.“ Sieben Kinder hat er, drei sind in Deutschland geboren. Sie haben ihren Weg gemacht, viele studierten, die meisten haben einen deutschen Pass. Tüzüns Deutsch ist holprig geblieben. „Am Arbeitsplatz waren nur türkische Leute.“

Die Arbeiter der ersten Jahre hatten wenig Kontakt zu Deutschen, wollten nicht auffallen, muckten nicht auf, wie Hacı Halil Uslucan, Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung, sagt. „Zentrales Motiv war ja, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen, um dann schnell zurückzukehren.“

Etwa drei Viertel waren Männer, ein Viertel Frauen. Junge Leute. Erst als diese dann doch blieben, ihre Familien holten, sesshaft wurden, seien sie in der Gesellschaft deutlich sichtbar geworden – mit Fragen nach Kita-Plätzen, Schulen, Bildung.

„Hau-ab-Prämie“

Als die Bundesrepublik 1973 einen Anwerbestopp verhängte, lebten etwa vier Millionen „Gastarbeiter“ in Deutschland, ein knappes Drittel in Nordrhein-Westfalen. Rechtsradikale Parteien wie die Republikaner und die NPD hetzten.

Die Bundesregierung wollte ihre Rückkehr 1980 bis 1983 mit einem finanziellen Anreiz forcieren, erläutert Uslucan. Die Türken nannten das damals „Hau-ab-Prämie“: Es gab einige Tausend D-Mark und eine Auszahlung der angesparten Rentenbeiträge nach einem halben Jahr. Trotzdem blieben viele in Deutschland.

Heute leben etwa 2,8 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland. Die Hälfte von ihnen besitzt einen deutschen Pass. Es gibt viele Erfolgsgeschichten – wie die Biontech-Gründer Uğur Şahin und Özlem Türeci. Oder das Gastarbeiterkind Serap Güler, NRW-Staatssekretärin für Integration, seit einer Woche neue Bundestagsabgeordnete.

„Tschüss, Deutschland!“

An diesem Dienstag sollen die Verdienste der „Gastarbeiter“ bei einem Festakt mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Berlin gewürdigt werden. Auch Ausstellungen wie im Ruhr Museum in Essen oder im Kölner Doku-Zentrum Domid rücken deren Leben und Leistung in den Fokus.

Deren Nachkommen sind selbstbewusster geworden, weiß Uslucan. ZfTI-Studien zeigten, dass 60 bis 80 Prozent der Türkeistämmigen Diskriminierung erlebt haben – bei Bildung, Bewerbungen, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Das werde nicht mehr hingenommen. „Mehmet fordert dieselben Chancen und Rechte ein wie Sebastian.“

Civelek hatte eine schnelle Rückkehr in die Türkei eingeplant, aber dann den richtigen Zeitpunkt verpasst – die Kinder in der Schule, Studium, ihre Familiengründung. Augenzwinkernd erzählt er: „2005 kam die Rente. Da habe ich „Tschüss Deutschland“ gesagt. Jetzt habe ich ein schönes Haus in Istanbul. Und in Deutschland mache ich Urlaub.“

dpa/dtj