Flüchtlingsdrama: Europa statt Taliban – Warum tausende Afghanen über die Türkei Richtung Westen fliehen

 
 

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Europa wollte eigentlich, dass Flüchtlinge aus Afghanistan in den Nachbarländern versorgt werden. An der türkischen Ostgrenze zeigt sich: Das ist wohl eine Illusion.

Migranten, die hauptsächlich aus Afghanistan kommen und am Vortag von türkischen Sicherheitskräften aufgegriffen wurden, warten auf die Registrierung in einem Abschiebezentrum an der Grenze zum Iran. © dpa Migranten, die hauptsächlich aus Afghanistan kommen und am Vortag von türkischen Sicherheitskräften aufgegriffen wurden, warten auf die Registrierung in einem Abschiebezentrum an der Grenze zum Iran.

Firat Güres zählt die Tage, bis der nächste Ansturm kommt. Der junge türkische Beamte leitet das Abschiebezentrum in der osttürkischen Provinzstadt Van, keine 60 Kilometer von der iranischen Grenze entfernt.

Der Mittdreißiger steht in schwarzem Hemd und violettfarbenem Sakko im Ankunftsbereich der Einrichtung, zwischen Metalldetektoren und Wänden aus Gitterstäben, und rechnet vor: „Etwa 20 Tage bis einen Monat brauchen die meisten Flüchtlinge, bis sie aus Afghanistan über Pakistan und den Iran an der Grenze zur Türkei ankommen.“ Das würde bedeuten, dass nach dem Fall Kabuls in den nächsten Tagen eine Welle die türkische Grenze erreichen könnte.

Die Vereinten Nationen erwarten, dass noch einmal mehr als eine halbe Million Menschen vor den Taliban fliehen werden. „Wir wissen nicht, wie viele Menschen derzeit über die Grenze kommen“, räumt Güres ein. Aber es dürften schon bald mehr werden – mehr, als die Türkei möglicherweise aufnehmen kann.

Erinnerungen werden wach. Erinnerungen an das Jahr 2015, als Hunderttausende Syrer Richtung Westen flohen. Erinnerungen an ein völlig überfordertes und zerstrittenes Europa. Erinnerungen auch an die Türkei, die eine Schlüsselrolle bei der europäischen Abwehrstrategie spielte.

Die Geschichte könnte sich nach den Ereignissen in Afghanistan wiederholen. Auch dieses Mal steht die Türkei wieder im Zentrum. Allein in einer Woche im Juli haben türkische Sicherheitskräfte knapp 1500 afghanische Flüchtlinge an der Grenze zum Iran aufgegriffen. „Teilweise machen sich wieder ganze Fahrzeugkonvois auf den Weg“, weiß Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network.

Und viele, die hier in der anatolischen Provinz ankommen, wollen eigentlich weiter Richtung Westen. „In der Türkei ist die Gefahr zu groß, dass wir abgeschoben werden“, sagt eine junge Afghanin. Es gebe nur zwei Möglichkeiten: Entweder, sie schaffe es nach Europa, „oder es geht irgendwann zurück zu den Taliban“.

Die wirtschaftliche Lage der Türkei ist derzeit sehr angespannt. Selbst viel, viel Geld aus dem Westen wird die Regierung nicht dazu bringen, den nun Fliehenden eine Bleibe in der Türkei anzubieten. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan richtete sein Wort daher bereits an die Europäer und sagte, dass „eine neue Welle der Migration unvermeidlich werden wird“.

Türkei: Syrer dürfen bleiben, Afghanen müssen zurück

Wer das Abschiebezentrum betreten will, muss an bewaffneten Beamten der Gendarmerie vorbei. In Camouflage stehen sie an dem gut vier Meter hohen Zaun, der die Flüchtlinge an einer Flucht Richtung Westen hindern soll. 

Das Innere des Zentrums sieht aus wie eine Mischung aus einem Zwei-Sterne-Hotel und einem Gefängnis: am Eingang ein Metalldetektor und eine Art Rezeption, im Hintergrund ein Gendarm mit Maschinengewehr vor Metallgittern, die den öffentlichen Eingangsbereich vom eigentlichen Lager trennen.

„Wir sind einfach abgehauen, als die Taliban in die Nähe unseres Dorfs kamen“, sagt ein junger afghanischer Mann in der Kantine. „Wir wussten nicht, was auf uns zukommt, und haben alles zurückgelassen.“

Das Lager sei noch nicht voll, sagt der Leiter des Abschiebezentrums Güres. Aber: „Es sind hauptsächlich Afghanen hier, die vor den Taliban fliehen.“ Und jeden Tag kommen neue Menschen an. Sie haben Verletzungen an den Beinen, vom Stacheldraht oder der schieren Distanz, die sie zu Fuß zurücklegen mussten, oder sind von den Schlägen ihrer Schmuggler lädiert. „Ich bin gestürzt“, sagt ein junger Afghane mit Schiene am Bein.

Ein anderer behauptet, er habe Herzrasen. Er sitzt im Behandlungsraum des Abschiebezentrums, kakigrünes Hemd und Hose, und trägt nur am linken Fuß eine Socke. Die Ärztin der Einrichtung, knapp 30 Jahre alt und mit blau gefärbten Strähnen in den Haaren, glaubt an psychosomatische Schmerzen.

Die EU überweist der Türkei sechs Milliarden Euro, allerdings nur für syrische Flüchtlinge, und die Türkei selbst akzeptiert nur wenige Asylanträge aus Afghanistan. Weil der Flughafen in Kabul derzeit nicht in Betrieb ist, finden keine Auslieferungsflüge statt. „Neuankommende werden daher manchmal in eines der rund 20 weiteren Abschiebezentren des Landes gebracht“, erklärt Güres.

Insgesamt kann die Türkei nach eigenen Angaben bis zu 25.000 Menschen in diesen Einrichtungen aufnehmen. Die Schätzungen der Vereinten Nationen sind zwanzig Mal so hoch.

Einöde statt Abschiebung

Im Innenhof des Abschiebezentrums suchen zwei Kinder unter einer Plastikrutsche Schutz vor der grellen Mittagssonne. Ihre Mütter sitzen rund 20 Meter entfernt auf einer Bank im Schatten. Ihre Blicke sind leer. Man hört keinen Ton. Eine der beiden Frauen zieht ihr Kopftuch vor das Gesicht, sodass nur ein dunkler Spalt übrig bleibt.

Sie sei mit Hunderten weiteren Menschen bereits im Mai über die Grenze gekommen, sagt sie. „Es ging schnell, aber wir mussten viel Geld bezahlen und wurden schlecht behandelt.“ Das Schleusertum auf der Route gen Westen ist inzwischen gut organisiert, was aber nicht mit Komfort gleichzusetzen ist.

Es gibt Schlafstätten, Transfers und je nach Bezahlung sogar die Garantie, im Fall einer Abschiebung einen weiteren Versuch mit Begleitung durch die Schleuser unternehmen zu dürfen. „Uns wurde Essen versprochen, aber wir haben oft nichts bekommen“, erzählt die junge Mutter im Abschiebezentrum. Mehr als 3000 Dollar musste sie für sich und ihre beiden Töchter bezahlen. Was mit dem Vater der Kinder passiert ist? „Darüber möchte ich nicht sprechen“, sagt sie und zieht das Kopftuch noch ein Stück weiter über ihr Gesicht. Wie es nun weitergeht? Sie wisse nur, dass derzeit keine Abschiebeflüge stattfinden. Was passiert, wenn hier noch mehr Flüchtlinge ankommen? Ihre Stimme versiegt.

Auf Höhe des Spielplatzes presst eine Frau ihr Gesicht an das Glas, ihre Augen sind voller Tränen. Die alte Frau hebt ihre Hand und will winken, doch ihre Kraft reicht gerade dafür, ihre Finger aufrecht gegen das Glas zu lehnen. Durch das geschlossene Fenster ist ein Schluchzen zu hören.

Auf vielen Schreibtischen sowie auf den Kopfkissen und am Pförtnergebäude sieht man die EU-Flagge. Darunter steht: „Dieses Projekt wurde von der Europäischen Union kofinanziert.“ Man kann sich kaum vorstellen, wie sich das für die Menschen, die nach Europa wollen und ihre letzte Nacht vor der Abschiebung auf einem EU-finanzierten Kopfkissen verbringen müssen, wohl anfühlt.

Ein junger Mann aus Afghanistan betont in der Kantine, er bekomme heute nur deswegen etwas zu essen, weil ein Journalist zu Gast sei. „Wir müssen ständig im Zimmer warten, wir wissen nicht, wie es weitergeht!“, schimpft er. Als der Leiter der Einrichtung sowie der ebenfalls anwesende Chef der lokalen Migrationsbehörde das mitbekommen, entsteht ein handfester Streit zwischen den beiden, den der Behördenchef nur noch mit dem Satz beenden kann: „Nur noch Allah ist über uns, also erzähle keine Lügen!“

In der Stadt Van gibt es, anders als in Istanbul oder anderen Großstädten, so gut wie keine ethnischen Restaurants, keine arabischen Schriftzeichen an Geschäften. Nur das blaue Straßenschild auf der Hauptstraße mit der Aufschrift „Iran“, in Schwarz auf gelbem Grund, lässt vermuten, dass die Stadt derzeit den Knotenpunkt vieler Flüchtlingsrouten aus dem Nahen und Mittleren Osten darstellt.

400 Flüchtlinge in einem Lkw

Wer dem Straßenschild folgt, dessen Reise endet an einer drei Meter hohen Mauer. Die Türkei hat in diesem Jahr damit begonnen, in dem unwegigen Grenzgebiet zum Iran einen Grenzwall zu errichten. Allerdings sind erst 64 von 560 Kilometer Grenze durch die Mauer gesichert. Und per Räuberleiter ist es bisher leicht, sie zu erklimmen.

Die Landschaft ist karg, es gibt keine Bäume, dafür viel zerklüftete Hügellandschaft. Wer hier über die Grenze fliehen will, braucht eine gute Kondition. Die türkische Gendarmerie patrouilliert gemeinsam mit dem Militär, auch Spezialkräfte der Polizei sind vor Ort. Nachts suchen sie das Grenzgebiet mit Wärmebildkameras ab, auch Drohnen sind im Einsatz.

Journalisten dürfen sie dabei begleiten, aber offiziell nicht mit ihnen sprechen. Einer der Soldaten erzählt später, dass noch im Frühjahr bis zu 1000 Menschen pro Tag beim Gang über die Grenze gefasst worden seien. Inzwischen sind es nur noch maximal zehn, manchmal sogar kein einziger.

Dafür gibt es immer wieder Berichte über Lkws, die auf den Landstraßen nahe der Grenze kontrolliert werden. In einem Laster sollen 400 Menschen gebückt und ohne genügend Sauerstoff ihre Reise ins fast 1500 Kilometer entfernte Istanbul angetreten haben. Sie wurden von Sicherheitskräften entdeckt.

Was danach mit ihnen geschehen ist, bleibt unklar. In Firat Güres’ Abschiebeeinrichtung dürften sie jedenfalls keinen Platz gefunden haben. Gut möglich, dass sie irgendwo im Grenzgebiet freigelassen worden sind. Viele Unentdeckte dürften sich dann wieder aufgemacht haben, nach Istanbul, an die Ägäisküste – und dann womöglich auf einem Boot in Richtung EU.

Zweite Flüchtlingswelle ist längst im Gange

Die türkische Opposition hat das Thema längst für sich entdeckt. Zwei Jahre vor der nächsten Präsidentschaftswahl gibt sie Versprechen ab, die der EU nicht gefallen dürften. Der Chef der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, drohte neulich damit, im Falle eines Regierungswechsels binnen zwei Jahren alle Migranten im Land in ihre Heimatländer zurückzuschicken.

Aus europäischer Sicht wäre das ein Desaster: Macht die Opposition weiter mit solchen Sätzen Stimmung, dürften sich viele der rund vier Millionen Flüchtlinge in der Türkei auf den Weg Richtung Europa machen, wenn sie befürchten müssen, in ihre Heimat zurückgeschickt zu werden.

Der Wunsch vieler Menschen in Deutschland, 2015 möge sich nicht wiederholen, er wirkt wie ein unerfüllbares Anliegen, wenn man sich die Schicksale der fliehenden Menschen vor Augen führt. Eine zweite Migrationswelle, wie einst vor sechs Jahren, ist längst im Gange. Und genau wie damals spürt sie zuerst die Türkei – und dann Europa.

Firat Güres ahnt, dass die derzeitige Situation nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm ist. In einem Monat könne alles anders aussehen, gibt er zu. Und fügt an: „Wir haben derzeit keinen Plan B.“

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