Das Wort „Genozid“ sorgt für Aufruhr

US-Präsident Biden verurteilt die Verfolgung von Armeniern als Völkermord – und verschärft die Krise in den Beziehungen mit der Türkei

 
 
Ungesühntes Verbrechen: Armeniens Premier Nikol Paschinjan lässt einen Kranz zum Mahnmal in Eriwan bringen. Foto: Tigran Mehrabyan/PAN Photo/dpa

Barack Obama hat es angekündigt, aber nicht gewagt. Joe Biden allerdings tut es: Als erster US-Präsident seit Ronald Reagan bezeichnet er die Gräueltaten an den Armeniern im Osmanischen Reich als Genozid, als Völkermord. Die Türkei spricht von „Lügen“.

In einer Erklärung zum 106. Jahrestag der Massenmorde sagte der demokratische Präsident am Samstag: „Wir gedenken all derer, die im Völkermord an den Armeniern während der Zeit der Osmanen gestorben sind.“ Biden unterstrich: „Wir tun dies nicht, um Schuld zuzuweisen, sondern um sicherzustellen, dass sich das, was geschehen ist, nie wiederholt.“

Die US-Präsidenten vor ihm hatten zwar immer wieder auf die Ermordung und die Deportation Hunderttausender Armenier hingewiesen, aber nie von einem Völkermord gesprochen, um die Türkei nicht zu verärgern. Lediglich Ronald Reagan verwendete 1981 das Wort Genozid, ohne diese Einstufung aber damals zum offiziellen Standpunkt der US-Regierung zu machen.

Die Reaktionen auf Washingtons neue Linie kam postwendend. „Worte können die Geschichte nicht verändern oder umschreiben“, erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu auf Twitter. „Wir werden uns von niemandem Lektionen über unsere Geschichte anhören.“ In einer offiziellen Stellungnahme wies das Außenministerium die US-Darstellung zurück. Bidens Worte hätten „eine Wunde“ in die Beziehungen beider Länder geschlagen, „die schwer zu heilen ist“. Der Sinneswandel sei auf Druck antitürkischer Kräfte und radikaler armenischer Kreise entstanden.

Staatschef Recep Tayyip Erdogan antwortete Biden nicht direkt. Er erklärte in einem Schreiben an die armenische Gemeinde und den armenischen Patriarchen lediglich, die Kultur der Koexistenz von Türken und Armeniern dürfe nicht vergessen werden. Das Thema sei von dritter Seite politisiert worden, um es gegen die Türkei einzusetzen.

In der ganzen Welt, besonders in Griechenland und den USA, hat die armenische Exilgemeinde am Samstag der Opfer des Genozids gedacht. In Armenien selbst kamen Hunderte zur Gedenkstätte Zizernakaberd in der Hauptstadt Eriwan. Der 24. April 1915 markiert den Beginn der Armenierverfolgungen im Osmanischen Reich. An jenem Tag wurden 250 armenische Intellektuelle festgenommen. Bei darauf folgenden Massakern und Todesmärschen in die mesopotamischen Wüsten kamen geschätzt rund 1,5 Millionen Menschen zu Tode.

Die Verfolgungen werden von den meisten Historikern außerhalb der Türkei sowie von zahlreichen Staaten als Völkermord bewertet. Auch die Bundesrepublik allerdings hat lange damit gezögert.

Die offizielle Türkei, die Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches ist, bezeichnet die Deportationen als „kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahmen“ und spricht von 300 000 bis 500 000 Todesfällen durch „Kriegswirren und Krankheiten“. Wer in der Türkei von einem Völkermord an den Armeniern spricht, muss wegen „Beleidigung der türkischen Nation“ mit einer Haftstrafe rechnen.

Der US-Kongress hatte bereits 2019 in einer Resolution die Massaker als Völkermord anerkannt. Der Bundestag fasste einen ebensolchen Beschluss im Juni 2016, was damals zu schweren Spannungen mit der Türkei führte.

Überraschend kam Bidens Erklärung nicht. Schon im US-Wahlkampf hatte er sich dafür ausgesprochen, die Armenierverfolgungen als Genozid zu benennen. Und erst am Freitag kündigte er in einem Telefonat mit Erdogan an, was er tags darauf öffentlich erklärte.

In dem Telefongespräch sagte Biden, er wolle an „konstruktiven bilateralen Beziehungen, mehr Zusammenarbeit und einem effizienten Management von Meinungsverschiedenheiten“ arbeiten. Beim Nato-Gipfel im Juni wollen sich Biden und Erdogan treffen. Aber der Weg zu einer Annäherung ist lang und steinig. Das zeigt schon der Umstand, dass Erdogan mehr als drei Monate auf den Anruf des neuen amerikanischen Präsidenten warten musste.

Das Armenierthema ist nicht der einzige Streitpunkt. Die Liste reicht vom Tauziehen über die Auslieferung des Erdogan-Erzfeindes Fethu­llah Gülen, der in den USA lebt, über Erdogans Rüstungsgeschäfte mit Russland bis hin zur Zusammenarbeit der USA mit der syrischen Kurdenmiliz YPG, die von der Türkei als Terrororganisation angesehen wird.

Das türkische Außenministerium hat US-Botschafter David Satterfield einbestellt, um gegen die Anerkennung des Völkermords zu protestieren. Offen ist, wie Erdogan jetzt über die Proteste hinaus auf Bidens Erklärung reagieren wird. Der türkische Staatschef wird sich wohl genau überlegen, ob er den Konflikt mit den USA weitertreibt. Eine Eskalation des Streits wäre Gift für das Vertrauen der Finanzmärkte und könnte die ohnehin schwer angeschlagene türkische Währung auf eine noch steilere Talfahrt schicken.

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