Montag, 19. April 2021 Hannover
Staatsanwalt klagt
„Schein-Einlader“ an
45 Teilnehmer einer türkischen Delegation kamen im Herbst
nach Hannover – nur zwei kehrten zurück in ihre Heimat
Von Manuel Behrens
Wurden sie eingeschmuggelt? Auf einer Liste sind die 45 eingereisten Menschen aus der türkischen Provinz Malatya aufgeführt.Fotos: Gero Breloer/dpa, privat
Haben türkische Beamte gemeinsam mit einem hannoverschen Unternehmer Dutzende von Landsleuten illegal nach Deutschland eingeschleust? Korruption und Menschenschmuggel – diese Vorwürfe kursieren derzeit in den regierungskritischen Medien der Türkei. Ins Scheinwerferlicht ist dabei auch ein Unternehmer aus Hannover geraten. Der 39-jährige K. soll im September vergangenen Jahres 45 Rathausmitarbeiter und andere Personen aus der Provinz Malatya in Ostanatolien nach Hannover eingeladen haben – doch 43 von ihnen kehrten nicht mehr in die Türkei zurück. Nun hat die Staatsanwaltschaft Hannover Anklage gegen K. erhoben. „Ihm wird vorgeworfen, gegen das Aufenthaltsgesetz verstoßen zu haben“, sagt Oberstaatsanwalt Thomas Klinge. Als sogenannter Schein-Einlader soll er im Namen seiner Firma bei der Einreise geholfen haben.
In Hannover sollte die Delegation in K.s Unternehmen an einem zehntägigen Umwelt- und Fortbildungsprojekt teilnehmen. Um visafrei nach Deutschland einreisen zu können, sollen ihnen für die Reise spezielle „Graue Pässe“ für jeweils mehrere Tausend Euro ausgestellt worden sein – so berichten es türkische Medien. Für die ausgestellten Pässe sollen die Delegationsmitglieder umgerechnet jeweils 5000 bis 8000 Euro bezahlt haben. Der HAZ liegt die Einladung von K.s Unternehmen an die Verwaltung von Malatya vor, wie auch die Liste der 45 eingereisten Personen.
43 Menschen untergetaucht
Ob das Umweltprojekt jemals stattgefunden hat, ist unklar. Aber: Nach türkischen Medienberichten kehrten nur zwei Teilnehmer in die Türkei zurück. Ziel der 43 großteils jungen Menschen: Sie sollen nach ihrer Ankunft in Deutschland untergetaucht sein und später Asyl beantragt haben, um sich hier ein neues Leben aufzubauen.
Der Vorgang in Hannover ist kein Einzelfall. Stattdessen wird in der Türkei heftig darüber diskutiert, ob die regierende AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan gezielten Menschenhandel betreibt und mit den Zahlungen für die „Grauen Pässe“ Geld verdient. Auch die Provinz Malatya wird von der AKP regiert. Wie türkische Medien berichten, stehen die verschwundenen Menschen der Partei nahe. Kurios ist daher, dass sie sich als politische Oppositionelle, etwa Kurden oder Anhänger der Gülen-Bewegung, ausgegeben haben sollen, um als politisch Verfolgte Asyl zu beantragen.
- war für ein Statement nicht zu erreichen. Auf einer der AKP verbundenen Nachrichtenseite weist er die Vorwürfe gegen ihn zurück. Auf K. sind mehrere Betriebe in Hannover angemeldet, allerdings handelt es sich dabei allem Anschein nach um Fake-Adressen.
Auch die türkische Botschaft in Berlin hat sich bisher nicht auf eine Anfrage zu dem Vorfall geäußert.
Was weiß die Bundesregierung?
Aufgeflogen war der Skandal um die verschwundenen türkischen Staatsbürger nach einer Anfrage der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, die sich nach deren Verbleib erkundigt hatte. Dass sich Menschen durch den Erwerb der „Grauen Pässe“ nach Deutschland einkaufen, ist nicht unbekannt – und wird demnächst sogar Thema im Bundestag. Die Linken-Abgeordnete Gökay Akbulut will den Schmuggel- und Korruptionsskandal in der nächsten Fragerunde einbringen. So soll es um die Frage gehen, ob die Bundesregierung Kenntnis vom Geschäft mit den Pässen und den vermeintlichen Umweltprojekten hat.
Gegenüber der HAZ sagte die Abgeordnete Akbulut: „Etwa 1000 Menschen sollen türkischen Medienberichten zufolge gegen Zahlung von hohen vierstelligen Beträgen aus der Türkei nach Deutschland gebracht worden sein. Im Zentrum dieses europaweiten kriminellen Netzwerks sollen mehrere Bürgermeister der AKP sein.“ Die Pässe sollen den Einreisenden nach der Ankunft wieder abgenommen worden sein. Akbulut fordert die Aufklärung des Schmuggelskandals: „Die Bundesregierung muss klar und deutlich diese organisierte Kriminalität der AKP-Politiker untersuchen und aufs Schärfste verurteilen. Leider hat die Bundesregierung sich bisher vieles von Erdogan gefallen gelassen.“
Bei der Stadt Hannover ist der Besuch der vermeintlichen Verwaltungsdelegation nicht bekannt. Wohl aber gab es Kontakt zum Unternehmen von K. „Die Landeshauptstadt Hannover erhielt im Januar 2020 eine Anfrage zum Empfang des Bürgermeisters des Landkreises Yesilyurt (Provinz Malatya) für Februar 2020“, antwortet die Verwaltung auf Anfrage. „Aus terminlichen Gründen kam es jedoch nicht zu einem Treffen und damit auch nicht zu einem Austausch mit einer Delegation aus Malatya.“
Auch der Hamburger Anwalt Mahmut Erdem beschäftigt sich mit der verschwundenen Delegation. Nach seinen Informationen aus der Türkei werde der Skandal klein gehalten. „Dort wird nicht ermittelt. Es gibt nur eine Voruntersuchung des Gouverneurs gegen den Gemeinderat und die verschwundenen Verwaltungsmitarbeiter.“ Doch wo sind die Menschen jetzt, die sich im September nach ihrer Ankunft in Deutschland verteilt haben sollen? Laut türkischen Medien befinden sich einige in Bremen und Hamburg.
Eine Anfrage nach ihrem Verbleib beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge blieb bisher unbeantwortet.