• Ex-Botschafter in der Türkei: „Erdogan beraubt das Land seiner Zukunft“

Ex-Botschafter in der Türkei „Erdogan beraubt das Land seiner Zukunft“

Martin Erdmann spricht über die Notwendigkeit europäischer Sanktionen, Demokratie in Not und Erdogans geschickte geopolitische Taktik. Ein Interview.

Der türkische Präsident Recep Erdogan geht einen immer autokratischeren Weg.
Der türkische Präsident Recep Erdogan geht einen immer autokratischeren Weg.Foto: imago images/Xinhua

Martin Erdmann (66) ist Diplomat im Ruhestand. Er war in den der zweiten Hälfte der 90-er Jahre Sprecher des Auswärtigen Amtes und von 2015 bis 2020 deutscher Botschafter in der Türkei.

Herr Erdmann, Sie sind im Ruhestand, aber die Türkei scheint Ihnen keine Ruhe zu lassen – warum?
Ich habe in den fünf Jahren große Sympathien für die Türkei, für die Menschen dieses Landes entwickelt. Aber seit einem Jahr fällt mir auf, dass das Land zunehmend von dem autokratischen Arm des Präsidenten und Parteiführers der AKP, Recep Tayyip Erdogan, niedergedrückt und seiner Zukunft beraubt wird; dass es in vielen Bereichen immer weniger Freiheiten gibt, eigentlich kaum noch Freiheiten; und dass wir es mit einer konstitutionellen Autokratie zu tun haben.

Deutschland und die EU zeigen sich weniger kritisch. Der deutsche Außenminister sieht „Licht und Schatten“ , die EU bescheinigt Ankara „positives und gemäßigtes Verhalten“. Wie sehen Sie das?
Ich beziehe mich auf den amerikanischen Präsidenten Joe Biden, der letzte Woche dem EU-Rat gesagt hat: Die Demokratien müssen die Verkehrsregeln in der Welt bestimmen, nicht die Autokratien. Biden hat sich ausdrücklich sehr besorgt gezeigt über den Zustand der Demokratie in der Türkei – ein bedeutender Kronzeuge, auf den ich mich gern berufe.

Der ehemalige deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann.
Der ehemalige deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann.Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Die EU bedauert zwar Repressionen in der Türkei, aber sie winkt mit positiven Anreizen wie einer Erweiterung der Zollunion. Ist das der richtige Umgang mit Ankara?
Ich war lange der Meinung, dass es richtig ist, mit Sanktionen zu warten, weil sie ungewünschte Nebeneffekte haben können. Aber die Entwicklung in der Türkei hat sich in den letzten zwölf Monaten so sehr von den Kopenhagener Kriterien weg entwickelt, die ja die Basis für alle Beitrittskandidaten sind, dass man das nicht mehr ignorieren darf.

Aus meiner Sicht sind die Kopenhagener Kriterien kein Lametta, das man an den Weihnachtsbaum hängt und bei Gelegenheit wieder abhängt, wenn es nicht mehr passt. Die Beitrittskriterien müssen eingehalten werden. Und wenn das nicht der Fall ist, muss man die Konsequenzen ziehen.

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Wenn Sanktionen greifen sollen, dann müssen sie ad personam und sehr gezielt eingesetzt werden. Lassen Sie mich aber gleichzeitig dazusagen: Ich bin nicht dafür, die Beitrittsverhandlungen abzubrechen. Sie liegen derzeit auf Eis, und da liegen sie richtig. Wir müssen warten auf den Tag, wo man sie wieder vernünftigerweise auftauen kann.

Die Opposition in der Türkei ist enttäuscht von der passiven Haltung Europas.
Die EU hangelt sich seit einem Jahr von Gipfel zu Gipfel durch, was eine klare Bewertung von Demokratie, Menschenrechten und Wertebasis in der Türkei angeht. Und sie tut dies, indem sie Entscheidungen und klare Worte mit einer Nebelwand von „Licht und Schatten“ auf den jeweils nächsten Gipfel vertagt.

Ich kann die Enttäuschung der Opposition verstehen. Aus meiner Sicht ist die Europäische Union erpressbar geworden. Was sind die Elemente dieser Erpressbarkeit? Zum einen das Flüchtlingsabkommen von 2016. Da hat der türkische Präsident immer wieder angedroht, „die Schleusen zu öffnen“, wie er sagt.

Zweitens: Tatsächlich ist die Türkei der einzige und letzte Stabilitätsanker in der Region, das ist fraglos richtig. Und das dritte Element der Erpressbarkeit, das der türkische Präsident sehr geschickt nutzt, ist das Verhältnis zu Russland und neuerdings zu China – indem er die Europäer und auch die Amerikaner darauf hinweist, dass er sich, wenn sie nicht mit ihm kooperieren wollen, nach anderen Partnern umsieht.

Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Türkei stieg aus der Istanbul-Konvention aus, was im Instanbuler Stadtteil Kadiköy zu Protest führte.
Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Türkei stieg aus der Istanbul-Konvention aus, was im Instanbuler...Foto: AFP

Wie könnten Deutschland und Europa besser mit der Türkei umgehen?
Wir müssen auf den Tag danach blicken – den Tag, an dem diesem System die politische Puste ausgegangen ist. Und es gibt so viele Anzeichen für die Erosion des Systems Erdogan: Parteigründungen von ehemaligen Weggefährten, Parteiaustritte; die Meinungsumfragen gehen in den Keller.

Wir müssen eine Brücke in die Zukunft bauen. Wie machen wir das? Indem wir nicht nur einseitig auf die Regierungsbank blicken und dort unsere Kontakte pflegen. Das müssen wir zwar ohnehin tun, aber wir müssen viel mehr auf die Opposition zugehen, Kontakte zur Opposition aufbauen, ein Vertrauensverhältnis, menschliche Netzwerke mit der Opposition und der Zivilgesellschaft – damit wir am Tag danach mit einer neuen Führung kraftvoll in die Zukunft gehen können.

Warum ist das nicht längst geschehen?
Ich glaube, dass man unterschätzt, dass die Erosion dieses Systems doch sehr schnell und über Nacht geschehen kann. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass der Machterhalt mit allen Mitteln langsam ausgereizt ist und dass die Unterstützung in der Bevölkerung und beim Wähler zunehmend schwindet. Ich glaube, man hat diesen Faktor übersehen und glaubt wahrscheinlich, dass das System Erdogan noch auf viele Jahre an der Macht sein wird.

Was sollte Europa jetzt tun?
Was wir tun müssen, das ist mittels der Sanktionen, sehr zielgerichteter Sanktionen gegen die Träger des Regimes und die Menschenrechtsverletzer, unsere Werte hochhalten und sagen: Das sind die demokratischen und menschenrechtlichen Leitplanken, innerhalb derer wir unser Verhältnis sehen.

Und wenn ihr, türkische Regierung, diese Leitplanken nicht respektiert, dann können wir mit euch nicht „business as usual“ machen. Der Selbstrespekt der EU verlangt es, darauf zu achten, dass die selbstgesetzten Rahmenparameter eingehalten werden. Und wenn das nicht der Fall ist, dann muss daraus eine Konsequenz gezogen werden, und es müssen die bestraft werden, die für diese Dinge die Verantwortung tragen.