Türkei - Verbotsverfahren gegen HDP: Recep Tayyip Erdoğans politischer Nuklearschlag

Sebnem Arsu

Die prokurdische HDP ist die drittgrößte Partei im türkischen Parlament. Nun will Präsident Erdoğan sie wegen angeblicher Terrorverbindungen verbieten. Sein Vorstoß zeigt, wie sehr seine Regierung wackelt.

© STRINGER / REUTERS

Es soll so aussehen, als hätte es ihn nie gegeben: Ömer Faruk Gergerlioğlu hat sein Abgeordnetenmandat am Mittwoch gerade erst verloren, da hat die türkische Verwaltung seinen Namen und seine Kontaktdaten bereits aus dem Parlamentsregister gelöscht.

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Im Plenarsaal in Ankara demonstrieren zu diesem Zeitpunkt noch Gergerlioğlus Parteifreundinnen von der linken, pro-kurdischen HDP gegen den Beschluss, den sie als Putsch der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan betrachten. Gergerlioğlu selbst ruft zu einem Sitzstreik auf. »Ich werde Widerstand leisten und nicht zulassen, dass der nationale Wille mit Füßen getreten wird«, sagte er.

Gergerlioğlu, ein gelernter Arzt, 55 Jahre alt, ist ein engagierter Kämpfer für Menschenrechte in der Türkei. Die Erdoğan-Regierung sieht in ihm hingegen einen Terrorhelfer. Die Justiz legt ihm einen Tweet aus dem Jahr 2016 zur Last, in dem er zu einer friedlichen Lösung des Kurden-Konflikts aufgerufen hatte. Nachdem eine Mehrheit der Abgeordneten für die Aufhebung von Gergerlioğlus Immunität gestimmt hat, soll der HDP-Politiker nun für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis.

»Dieses Verfahren markiert einen neuen Tiefpunkt«

Der Ausschluss Gergerlioğlus aus dem Parlament war am Mittwoch nur der Auftakt für einen sehr viel umfassenderen Angriff der Regierung auf die HDP. Unmittelbar nach der Abstimmung gab der türkische Oberstaatsanwalt Bekir Sahin bekannt, beim Verfassungsgericht einen Verbotsantrag gegen die Partei eingereicht zu haben.

Die HDP soll aufgelöst werden. 687 ihrer Mitglieder, darunter die beiden Co-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar, sowie der ehemalige Parteichef Selahattin Demirtaş, sollen aus der Politik verbannt, sämtliche Gelder der Partei beschlagnahmt werden. Es ist der bislang schwerste Schlag der Erdoğan-Regierung gegen die pro-kurdische Demokratiebewegung.

Die HDP ist die drittgrößte Partei im türkischen Parlament. Sie holte bei der Wahl 2018 elf Prozent der Stimmen. Sahin, der erst vergangenen Juni von Erdoğan als Oberstaatsanwalt eingesetzt wurde, wirft ihr vor, der politische Arm der Terrororganisation PKK zu sein. »Die HDP-Mitglieder haben mit der PKK zusammengearbeitet, um die Einheit der Nation zu zerstören«, teilte er schriftlich mit.

Die HDP gibt sich kämpferisch. Der Verbotsantrag zeige, wie schwach die Regierung ist, heißt es in einem ersten Statement der Partei. »Sie will uns eliminieren, weil sie uns an der Wahlurne nicht schlagen kann.« Der HDP-Führung dürfte jedoch klar sein, dass sich ein Verbot nur noch schwer verhindern lässt. Erdoğan übt beinahe vollständig Kontrolle über die Justiz aus. Er würde ein Verfahren wie dieses kaum tolerieren, wenn er annehmen würde, dass es vor Gericht scheitern könnte.

Ein Bann der HDP ist eine Art politischer Nuklearschlag. Die Empörung über den Vorstoß der Regierung reicht quer durch die politischen Lager. »Eine politische Partei, die sechs Millionen Stimmen geholt hat, zu verbieten, bedeutet, den Willen der Wähler zu verachten«, kritisiert der Vorsitzende der muslimisch-konservativen Deva-Partei, Ali Babacan, der einst unter Erdoğan Wirtschaftsminister war. »Diese Regierung hat der Demokratie bereits in jeder erdenklichen Weise geschadet«, sagt der sozialdemokratische Abgeordnete Sezgin Tanrikulu. »Doch dieses Verfahren markiert einen neuen Tiefpunkt.«

Erdoğans Umfragewerte befinden sich auf einem Tiefpunkt

Parteiverbote haben eine lange, unselige Tradition in der Türkei. Seit 1961 wurden mindestens 20 Parteien geschlossen, darunter in den Neunzigerjahren auch die Refah, die Vorgängerpartei der Erdoğan-Partei AKP. Erdoğan selbst hat Parteiverbote wiederholt als undemokratisch gebrandmarkt. AKP-Vizechef Numan Kurtulmus hat sich noch im vergangenen Jahr gegen einen Bann der HDP ausgesprochen. »In der Türkei ist aus Parteiverboten nie irgendetwas Positives hervorgegangen«, sagte er.

Die Kehrtwende zeigt, wie groß die Verunsicherung in der Regierung mittlerweile ganz offensichtlich ist. Die türkische Wirtschaft steckt seit Jahren in der Krise, die Corona-Pandemie hat die Not vieler Menschen nur verschärft. Erdoğans Umfragewerte befinden sich auf einem Tiefpunkt. Er hätte derzeit schlechte Chancen, als Präsident wiedergewählt zu werden. »Die Regierung hat Autoritarismus mit Wahlen versucht«, sagt die Historikerin Ayse Hür. »Doch die Probleme sind so groß, dass sie nun die zweite Phase eingeläutet hat, Autoritarismus ohne Wahlen. Was in der dritten Phase kommt, kann ich nicht vorhersagen.«

Erdoğan wirkt zudem getrieben von seinem rechtsextremen Koalitionspartner, der MHP. Zwar kommt die MHP bei Umfragen auf nur rund sieben Prozent der Stimmen. Doch ihr Einfluss auf die türkische Politik ist zuletzt stetig gewachsen. Es war MHP-Chef Devlet Bahceli, der – anders als Erdoğan – lautstark für ein Verbot der HDP geworben hat.

»Erdoğan hat die absolute Macht über die Institutionen des Staates, aber er hat nicht die absolute politische Macht«, sagt Sinem Adar, Türkei-Expertin der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP). Der Präsident sei auf das Wohlwollen der MHP angewiesen. »Erdoğan hat sich der MHP ergeben«, sagt der HDP-Parlamentarier Garo Paylan.

Die Regierung hat die HDP in den vergangenen Jahren konsequent kriminalisiert. Tausende Mitglieder wurden als vermeintliche Terrorhelfer verhaftet, darunter auch die Ex-Vorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtaş. Bürgermeister im mehrheitlich kurdischen Südosten der Türkei wurden ihrer Ämter enthoben. Mit dem Verbotsverfahren gegen die HDP geht Erdoğan dennoch ein großes Risiko ein.

Parteien gingen in der Vergangenheit oft gestärkt aus solchen Prozessen hervor. Die AKP selbst gewann 2008 durch ein überstandenes Verbotsverfahren an Stimmen hinzu. »Es ist unsere ehrenhafte Pflicht für künftige Generation die HDP zu schließen, sodass sie nie wieder unter einem neuen Namen zurückkehrt«, forderte MHP-Chef Bahceli am Donnerstag.

Ein Bann der HDP dürfte Millionen Menschen in der Türkei weiter von der Politik entfremden. Schon jetzt fühlen sich vor allem viele Kurden von der Regierung ausgegrenzt und schikaniert, ein HDP-Verbot würde dieses Gefühl nur verstärken. Manche könnten sich als Konsequenz dann tatsächlich radikalen Gruppen wie der PKK anschließen.

Auch die Beziehungen der Türkei zu Europa und den USA dürften durch das Verfahren gegen die HDP weiter belastet werden. Das US-Außenministerium warnte, ein Verbot der Partei würde die türkische Demokratie »weiter untergraben«. Die EU hat sich zu dem Vorgang bislang nicht geäußert.

Erdoğan hat in den vergangenen Wochen demonstrativ die Nähe zu den Europäern gesucht. Erst Anfang März hat er einen neuen Menschenrechtsplan vorgestellt. Nun zeigt sich, wie wenig seine Worte wert sind.

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