Türkei und Kurden: Wird jetzt das Ende der kurdischen PKK eingeleitet?
Artikel von Marion Sendke
Erdoğans neue Doppelstrategie: In Nordostsyrien lässt die Türkei kurdische Milizen bekämpfen – und umwirbt gleichzeitig den inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan.
Trauernde tragen am 22. Dezember 2024 den Sarg einer kurdischen Kämpferin, die in der Nähe der syrischen
Stadt Kamischli bei einem türkischen Drohnenangriff getötet wurde. © Delil Souleiman/AFP/Getty Images
Der türkische Staatsfeind Nummer eins ist auf einer Insel im Marmarameer eingesperrt. Seit einem Vierteljahrhundert sitzt Abdullah Öcalan in Isolationshaft auf Imrali ein. Der türkische Staat achte streng darauf, dass es dem Gründer der Terrororganisation PKK gut gehe, heißt es seit Jahren aus Sicherheitskreisen. Denn Öcalan wird als Schlüsselfigur angesehen, um eines Tages den jahrzehntelangen Konflikt mit den kurdischen Extremisten beizulegen.
Der Zeitpunkt dürfte nun gekommen sein. Öcalan sei bereit, den "notwendigen Schritt für einen Aufruf zur Niederlegung der Waffen zu gehen", hieß es vor wenigen Tagen von den beiden Abgeordneten der prokurdischen DEM-Partei, Sırrı Süreyya Önder und Pervin Buldan. Die türkische Justiz hatte ihnen erlaubt, Öcalan zu besuchen. Das Treffen ist historisch, der letzte Besuch von Vertretern der DEM ist etwa zehn Jahre her. Die Parteiführung bestritt stets, Verbindungen zur PKK zu haben. Unbestritten ist dagegen der Kultstatus Öcalans in der DEM. Seine Worte haben Gewicht.
Nach dem Besuch erklärten Önder und Buldan, dass der PKK-Chef einen Friedensprozess unterstützen wolle. Details nannten sie nicht. Dafür sei der Prozess zu sensibel, sagte Buldan. Die DEM-Abgeordneten seien aber hoffnungsvoller als bei früheren Prozessen. Öcalan selbst habe von einer "Ära des Friedens, der Demokratie und der Brüderlichkeit für die Türkei und die Region" und einer Stärkung der "türkisch-kurdischen Geschwisterschaft" gesprochen.
Die Türkei unterdrückt die Kurden seit Jahrzehnten
Die Wortwahl ist wichtig und hat eine internationale Dimension. Denn in der Türkei ist die PKK seit Jahren kaum noch aktiv. Vereinzelte Anschläge gehen in der Regel auf ihre Ableger im Nordosten Syriens zurück. Dort ist von Öcalans "Ära des Friedens" bisweilen nichts zu spüren. Kurdisch geführte Milizen kämpfen seit etwa drei Wochen gegen Brigaden der sogenannten Syrischen Nationalarmee, die von der Türkei unterstützt wird.
Die Lage in Nordostsyrien ist kompliziert. Im Kampf gegen den Islamischen Staat sind die USA offiziell mit der Einheit der "Syrisch Demokratischen Kräfte" (SDF) verpartnert. Die vor allem arabische Bevölkerung im Nordosten Syriens berichtet seit Jahren, dass kurdische Militärs sie anwerben und ihnen die Lehren Öcalans beibringen würde. Diese fußen auf einer streng marxistisch-leninistischen Ideologie, weshalb Länder wie Russland oder China die PKK nie als Terrororganisation eingestuft haben.
Der türkische Staat verbindet mit Öcalans Ideologie dagegen die Gefahr, dass sich das Land spaltet. Sie unterdrückte die Kurden jahrzehntelang, ganz gleich, ob sie für oder gegen die PKK waren. Nach etwa einem halben Jahrhundert Krieg mit mehr als 40.000 Toten halte sich die Zahl der kämpfenden Frauen und Männer in der PKK konstant bei rund 10.000, heißt es aus türkischen Sicherheitskreisen. Ein Ende der Terrororganisation könne nur aus der Gruppe selbst kommen. Dafür brauche es Öcalan.
Der war 1999 vom türkischen Geheimdienst mithilfe der CIA in Kenia gefasst und in der Türkei wegen der Gründung einer terroristischen Vereinigung, Mordes und Hochverrats zum Tode verurteilt worden. Ausgerechnet die rechtsnationalistische Partei MHP trug mit ihren Stimmen dazu bei, dass die Todesstrafe abgeschafft wurde. Öcalans Strafe wandelte sich in lebenslangen Freiheitsentzug um. Seitdem trat er vor allem dann in Erscheinung, wenn der türkische Staatspräsident ihn benutzte, um sich die Unterstützung der Kurden im Land zu sichern. Vor Wahlen ließ Recep Tayyip Erdoğan etwa Briefe veröffentlichen, in denen der PKK-Führer indirekt für ihn warb. Als Öcalan 2015 die PKK aufforderte, die Waffen abzulegen, hoffte Erdoğan, zum Friedensfürst zu werden. Doch die Milizen widersetzten sich. Ihre Ableger in Syrien waren beseelt von selbsterklärter Autonomie und der Partnerschaft mit den USA.
Danach wurde es ruhig um Öcalan. Erst vor drei Monaten brachte MHP-Chef Devlet Bahçeli ihn wieder auf die Tagesordnung. "Er soll ins Parlament kommen und erklären, dass der Terror beendet und die PKK aufgelöst ist", forderte Bahçeli und überraschte damit Nationalisten wie Anhänger der prokurdischen DEM-Partei gleichermaßen. Einen Tag später gab es einen Terroranschlag in Ankara. Ein Flügel der PKK bekannte sich dazu, die alte Ordnung schien wieder hergestellt. Doch Bahçeli ließ nicht locker und sagte Ende Oktober: "Ein Türke, der die Kurden nicht liebt, ist kein Türke und ein Kurde, der die Türken nicht liebt, ist kein Kurde." Erdoğan wiederholte den Satz daraufhin, während sein Außenminister die Türkei zur einzigen Beschützerin Kurden in der Region erklärte.
Wenige Wochen nach der Charmeoffensive stürzte Syriens Diktator Baschar al-Assad. Kurdische Milizen hatten bis dahin mit ihm kooperiert. Seitdem das Regime nicht mehr ist und die USA über einen Teilrückzug aus dem Land nachdenken, gibt es ein heimliches Gerangel um die kurdische Führung. Israels Regierung hat sich Anfang Dezember deutlich zu den Kurden Syriens bekannt. Die Türkei fürchtet nun, dass diese zu Proxys für israelische Interessen werden und will selbst ein neues Verhältnis zu ihnen aufbauen. Die Regierung zeigte sich sogar bereit, eine neue, autonome Region der Kurden in Syrien zu akzeptieren – nur nicht unter der Führung von PKK-nahen Funktionären.
Um das zu erreichen, setzt die Türkei auf eine Doppelstrategie: militärischer Druck in Syrien und Dialog mit Öcalan zu Hause. Im Hintergrund wird seit Wochen verhandelt. Mitte Dezember teilte SDF-Chef Mazlum Abdi in Syrien mit, ausländische Kämpfer würden das Land verlassen werden, wenn es mit der Türkei eine Einigung gebe. Parallel sucht die kurdische Militärführung einen Schulterschluss mit der syrischen Interimsregierung, die der islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Scham nahesteht. Deren Führer Ahmed al-Scharaa wiederholte bisher aber nur die Forderungen der Türkei: Ausweisung der ausländischen Kämpfer, Trennung von PKK-nahen Funktionären und Niederlegung der Waffen.
Der Höhenflug kurdisch geführter Milizen in Syrien scheint vorbei zu sein. In ihren Gebieten protestieren Teile der mehrheitlich arabischen Bevölkerung seit Wochen gegen sie. Auch jenseits der Grenze wünschen sich viele Kurden und Türken ein Ende des jahrzehntelang politisch geschürten Hasses. Sollte Öcalan seine aktuelle Ankündigung umsetzen und ein de facto Ende der PKK fordern, dürfte seine Stimme mehr Gewicht haben als vor neun Jahren