Kurdisches Autonomiegebiet kämpft um das Überleben

                                    Artikel von Tom Gath
 
 
 
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                                      In Brüssel demonstriert die kurdische Community. © dpa
 

Das kurdische Autonomiegebiet in Syrien kämpft gegen türkische Angriffe um das Überleben. Von Tom Gath.

Knapp eine Woche nach dem Sturz von Baschar al-Assad rätselt die westliche Welt, ob mit dem Bündnis um die islamistische Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) eine demokratische Transformation Syriens gelingen kann. Was bei den internationalen Appellen, in der neuen islamistischen Ordnung Syriens die Rechte von Frauen und Minderheiten zu schützen, untergeht: Mit der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien existiert seit Jahren auf rund einem Drittel des Staatsgebiets ein säkulares pluralistisches De-facto-Regime. Doch die als Rojava bekannte Region mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit ist nun bedroht.

Die von der Türkei gesteuerten islamistische Syrische Nationale Armee (SNA) hat die Gunst der Stunde genutzt und das Militär der kurdisch dominierten Selbstverwaltung (SDF) attackiert. Abseits der HTS-Offensive griff die SNA auch das westlich des Euphrat gelegene Manbidsch an, von wo sich die SDF dann zurückzog. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtet aus Manbidsch von Plünderungen kurdischer Stadtviertel, niedergebrannten Häusern und sogar mehreren Hinrichtungen durch die SNA.

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Trotz der Waffenruhe soll es am Donnerstag zu heftigen Kämpfen um den Tischrin-Staudamm, 25 Kilometer südöstlich von Manbidsch, gekommen sein. Der Staudamm ist nicht nur für die Stromversorgung Rojavas wichtig, sondern auch als Straßenverbindung zwischen den Ufern des Euphrats. Am Donnerstagnachmittag kursierte schließlich eine SNA-Ankündigung, wonach eine Waffenruhe bis Montag vereinbart sei.

Die SDF wollen um jeden Preis verhindern, dass die SNA ins kurdische Kerngebiet östlich des Euphrat vorrückt. Dort greift die türkische Armee seit Tagen unter anderem die symbolträchtige Stadt Kobane und umliegende Dörfer mit Artillerie und Drohnen an. Die Selbstverwaltung meldete Dutzende Tote, darunter auch Kinder. Die Türkei betrachtet die SDF als syrischen Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK und will die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien auf einen 32 Kilometer breiten Korridor zurückdrängen. Einen Teil dieses Korridors hält die Türkei bereits seit Jahren völkerrechtswidrig besetzt und hat dort syrische Binnenflüchtlinge angesiedelt.

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Khaled Davrisch, hiesiger Vertreter der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, sagte am Dienstag: „Nur wenn die Türkei ihre Eskalation stoppt, können wir die historische Chance für eine friedliche Lösung des Konflikts nutzen. So wie 2015 die ganze Welt um Kobane bangte, könnte sich nun erneut die Zukunft Syriens in Kobane entscheiden.“

Der Politikwissenschaftler Mahir Tokatli von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen teilt diese Einschätzung: „Gerade diese autonomen Kurdengebiete haben gezeigt, wie ein harmonisches und plurales Zusammenleben unterschiedlicher Religionen, Ethnien und Kulturen funktionieren könnte. Die vielfachen Angriffe auf dieses Gebiet seitens der Türkei und ihrer Kollaboration mit dschihadistischen Akteuren zeugt von der gefährlichen Rolle der Türkei für diese Region.“

Weiter südlich stehen die SDF ebenfalls unter Druck: Im Zentrum von Rakka soll es zu einer großen Explosion an einem Gebäude von Sicherheitskräften der Selbstverwaltung gekommen sein. Unterdessen hat die HTS Deir ez-Zor im Ölgebiet westlich des Euphrat kampflos von den SDF übernommen.

Trotz massiver Bedenken wegen der islamistischen Ausrichtung von HTS bemüht sich die Selbstverwaltung von Rojava um einen Dialog mit ihr. In den kurdischen Vierteln Aleppos kam es bereits zu erfolgreichen Absprachen zwischen SDF und HTS zum Schutz der kurdischen Bevölkerung der Stadt. Vereinzelt soll HTS auch SNA-Offiziere wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen an kurdischen Kämpfer:innen und Zivilpersonen verhaftet haben. Als Bekenntnis zur Einheit Syriens kündigte die Selbstverwaltung Rojavas am Donnerstag an, überall die grün-weiß-schwarze Flagge der syrischen Opposition zu hissen. Die Stärke der SDF beruht nicht zuletzt darauf, dass sie zusammen mit den 9000 Mann des US-Militärs im Nordosten IS-Schläferzellen in Schach halten und Zehntausende IS-Gefangene bewachen. Eine Sprecherin des Pentagons betonte am Mittwoch, die Partnerschaft werde wie bisher fortgesetzt. An diesem Freitag will US-Außenminister Antony Blinken in Ankara über die Lage in Rojava sprechen, Anfang nächster Woche wird EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu Syrien-Gesprächen in der Türkei erwartet.