Warum junge Menschen so anfällig für Extremisten sind: Das sagt Prof. Khorchide
In mehreren deutschen Städten kam es jüngst zu Messerangriffen. Experten warnen vor der Radikalisierung junger Menschen, die sich perspektivlos fühlen und durch soziale Medien beeinflusst werden. Präventionsarbeit in Moscheen und Jugendzentren soll dem entgegenwirken und Alternativen bieten, fordert Prof. Mouhanad Khorchide.
Es ist ein sonniger Mai-Nachmittag, als in der Innenstadt von Mannheim plötzlich Panik ausbricht. Ein Mann zieht ein Messer, verletzt mehrere Passanten – ein Opfer überlebt den Angriff nicht. Die Stadt steht unter Schock. Nur wenige Wochen später, im August, wird das fröhliche Treiben auf dem Solinger Stadtfest unterbrochen. Ein islamistisch motivierter Messeranschlag erschüttert die Veranstaltung. Und im September versucht ein weiterer Attentäter offenbar, das israelische Generalkonsulat zu stürmen.
Drei Städte, drei Taten – doch eine erschreckende Gemeinsamkeit: Sie alle tragen den Stempel des islamistischen Extremismus. Nach diesen Angriffen steht die Frage im Fokus, weshalb besonders junge Menschen in den Bann islamistischer Ideologien geraten.
Mouhanad Khorchide, angesehener Professor für Islamische Theologie an der Universität Münster, forscht schon seit Jahren zu diesem Thema. Khorchide glaubt, dass es kein einheitliches Profil derjenigen gibt, die sich radikalisieren. In einem Gespräch mit dem ZDF hebt er hervor, dass es vor allem junge Männer seien, die sich perspektivlos und hilflos fühlten, die besonders anfällig seien. Sie würden sich oft auf der Suche nach einem Sinn oder nach Selbstbehauptung befinden.
Zwei wesentliche Faktoren der Radikalisierung
Khorchide betont, dass bei der Radikalisierung sowohl psychologische als auch ideologische Aspekte eine Rolle spielten. Viele der Betroffenen hätten Traumata oder psychische Probleme, die oft auf belastende Kindheitserfahrungen zurückzuführen seien. Hinzu komme eine ideologische Komponente, die vor allem durch narrative Erzählungen in den sozialen Medien gestärkt werde. Seit dem Rückzug internationaler Truppen aus den ehemaligen IS-Gebieten habe sich die Terrororganisation neu formiert und ihre Aktivitäten zunehmend ins Digitale verlagert. Besonders problematisch dabei: Immer jüngere Menschen werden in diesen virtuellen Räumen erreicht und radikalisiert.
Der Professor stellt jedoch klar, dass Religion, anders als vor allem Islam-Gegner und -Kritiker oft behaupten, in Radikalisierungsprozessen keine primäre Rolle spiele. Vielmehr seien es soziale Medien, die als Plattform für Narrative über die Ungerechtigkeiten des Westens dienten. „Es gibt ein dominierendes Narrativ, das Diskriminierung und Ungerechtigkeit anprangert“, sagt der Theologe. Viele Jugendliche würden emotional erreicht, weniger durch religiöse Überzeugungen. Ein Phänomen, das Khorchide dabei hervorhebt, ist der “religiöse Analphabetismus”. Viele der jungen Menschen, die sich radikalisieren, verfügten nur über rudimentäres Verständnis ihrer Religion. Sie würden nicht durch fundiertes religiöses Wissen beeinflusst, sondern durch vereinfachte und emotional aufgeladene Erzählungen, die Feindbilder konstruieren.
Identitätskrise als Radikalisierungsmotor
Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der zur Radikalisierung beitrage, sei die Suche nach Identität. Viele junge Menschen fühlen sich zwischen verschiedenen Kulturen zerrissen. In ihren Herkunftsländern gelten sie als Ausländer oder gar Verräter, in Deutschland werden sie nicht vollständig als Teil der Gesellschaft anerkannt oder beim ersten Fehlverhalten an den Pranger gestellt. Diese Identitätskonflikte treiben manche in die Arme extremistischer Gruppen, die ihnen Zugehörigkeit und Anerkennung versprechen. Besonders über soziale Netzwerke werden diese Jugendlichen leicht erreicht. Radikale Gruppen nutzen heute das Internet, um emotional aufgeladene Inhalte zu verbreiten, die bei jungen Menschen auf fruchtbaren Boden stoßen.
Behörden warnen zunehmend vor der Gefahr von Einzeltätern, die sich schnell und unbemerkt radikalisieren. Der Zugang zu extremistischem Material im Internet und die einfache Vernetzung mit Gleichgesinnten machen es immer schwerer, solche Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern. Die zunehmende Verlagerung der Radikalisierung in den digitalen Raum stelle neue Herausforderungen dar, weiß auch Khorchide. Er sieht dementsprechend dringenden Handlungsbedarf in der Präventionsarbeit. Moscheen und Jugendeinrichtungen sollten seiner Ansicht nach verstärkt Angebote schaffen, die jungen Menschen eine positive, weltoffene Form des Islam vermitteln und ihnen helfen, stabile Identitäten zu entwickeln, die Extremisten keinen Raum lassen.
Politischer Islam versus Terrororganisationen
Es gibt jedoch noch eine weitere Dimension: der Unterschied zwischen dem politischen Islam und Terrororganisationen wie dem sogenannten Islamischen Staat (IS). Khorchide erklärt, dass der politische Islam auf legalem Weg versuche, Einfluss zu nehmen, während der IS offen Gewalt propagiere. Beide hätten jedoch eines gemeinsam: Sie stellten den Westen als Feindbild dar – ein Narrativ, das auf frustrierte junge Menschen anziehend wirke. Die Attentate in Mannheim, Solingen und München zeigen, wie tief dieses Problem mittlerweile in Deutschland verankert zu sein scheint. Junge Menschen, die sich von der Gesellschaft abgehängt fühlen, sind leichte Beute für die emotionalen Botschaften des Extremismus.
Der Islamwissenschaftler warnt vor pauschalen Urteilen: „Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir auf beiden Seiten nicht pauschale Aussagen machen – hier die bösen Muslime oder dort die im bösen Westen“, um ein Narrativ nicht weiter zu bestärken. Moscheen und Jugendzentren müssten stärker in die Pflicht genommen werden. Junge Menschen bräuchten Alternativen, die ihnen ein positives, weltoffenes Verständnis des Islam vermitteln. Nur so könnten die Narrative des Hasses und der Gewalt durchbrochen werden.