Nach Hanau feierte Deutschland Karneval, nach Solingen schiebt Deutschland ab“
Hanau ist kein Einzelfall“ ist der Abend überschrieben, die Zuschauerreihen sind etwa zur Hälfte besetzt, das Publikum spendet im Lauf der anderthalb Stunden oft Zwischenapplaus. Said Etris Hashemi sagt, dass es ihm anfangs sehr schwerfiel, über das Ereignis zu sprechen, das sein Leben für immer veränderte. Nach einem Jahr aber schloss er sich der Initiative „19. Februar Hanau“ an, die sich – so fasst er die Ziele zusammen – für Aufklärung einsetzt, Konsequenzen aus dem Anschlag fordert, sich um Erinnerungsarbeit kümmert und für Gerechtigkeit engagiert.
In einem Punkt sei wirklich etwas erreicht worden, denn es wurde „eine komplett neue Erinnerungskultur“ geschaffen. In anderen Fällen noch habe sich die Aufarbeitung in einer Weise auf die Täter konzentriert, dass deren Ideologie in den Mittelpunkt geriet. Beim Zuhören fällt einem schnell der NSU ein, dessen Opfer während der Mordserie diskreditiert wurden. Said Etris Hashemi sagt: „Wir haben eine neue Erinnerungskultur geschaffen. Die Namen der Opfer von Hanau sind bekannt. Dazu haben viele Menschen beigetragen. Darauf können wir als Gesellschaft stolz sein.“
Der Moderator Stephan Anpalagan veröffentlichte vor einem Jahr das Buch „Kampf und Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft“, in dem er etliche Fälle zusammenträgt, in denen Menschen aus migrantischen Familien sich in Deutschland diffamiert, ausgegrenzt und zurückgewiesen sehen. Er kommt mit Said Etris Hashemi zu einem optimistischen Punkt: Die Zivilgesellschaft sei inzwischen weiter, als man es nach den Politiker-Auftritten der vergangenen Tage annehmen könnte. Die Stadt Hanau habe sich dagegen gestellt, als der Anschlag als „fremdenfeindlich“ charakterisiert wurde. Es waren Hanauer Bürger, keine Fremden, die von einem von rechtsextremer Ideologie getriebenen Deutschen ermordet wurden.
Auch die Autorin Gilda Sahebi sagt: „Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Gesellschaft so dämlich agiert oder denkt wie die Politik.“ Anpalagan konfrontierte sie auf der Bühne mit dem Zitat: „Nach Hanau feierte Deutschland Karneval, nach Solingen schiebt Deutschland ab.“ Nach dem islamistischen Anschlag auf dem Stadtfest von Solingen, bei dem drei Menschen starben und sechs Personen schwer verletzt wurden, waren plötzlich Abschiebungen möglich. Sahebi wehrt sich gegen einen Vergleich der Vorfälle, „denn am Ende steht immer ein Ereignis weniger schlimm da als das andere, das ist falsch“.
Sahebis neues Buch heißt „Wie wir uns Rassismus beibringen“. Sie habe überlegt, einen anderen Titel zu wählen, „Das R-Wort“ nämlich, weil sie findet, dass es hierzulande eine Scheu gebe, Rassismus zu benennen, wo er vorkomme. „Es läuft seit den 1870ern schief“, sagt sie, „schon das Kaiserreich wehrte sich gegen die angebliche Slavenflut aus dem Osten. Die Idee, dass Deutschland ein monoethnischer Staat sein soll, wie sie von Björn Höcke wieder verbreitet wird, ist sehr tief verankert.“ Mitten in Europa sei es aber gar nicht möglich, ohne Zuwanderung zu leben. Die Probleme lägen vor allem in den Strukturen begründet, etwa wenn es nicht genug Sprachkurse gebe, nicht ausreichend Beschäftigte in den Ausländerbehörden.
„Ein Land mit einer Bevölkerung von 84 Millionen Menschen muss drei Millionen Zuwanderer aufnehmen können“, sagt Gilda Sahebi. Sie macht eine einfache Rechnung auf: Eine Gruppe von 84 Leuten könne doch auch damit umgehen, wenn drei neue hinzukämen. Aber statt den Islamismus zu bekämpfen, werde jetzt zum Migrationsgipfel gerufen. Sie ist sich mit dem Moderator einig, dass die Politik hektisch versuche, auf die Ergebnisse der Landtagswahlen zu reagieren und auch schon die Bundestagswahl im kommenden Jahr denke. Es gehe aber nicht um die Wähler, sagt Gilda Sahebi. Sie betont: „Ich bin moralisch nicht hochwertiger als ein AfD-Wähler.“ Es gehe um die Zukunft der Gesellschaft.
Und was hätte sich, um zum Anfang zurückzukommen, Said Etris Hashemi gewünscht? Dass man nicht die Opfer verdächtigt hätte, denn von den Überlebenden in Hanau wurden sofort die Handys beschlagnahmt, als läge etwa ein Fall von Clankriminalität vor. Dass man sich mehr um Respekt bemüht hätte, denn als man seiner Familie die Sachen von seinem toten Bruder zuschickte, waren es die eines anderen Mannes. Dass gründlicher ermittelt worden wäre, denn es war erst die Initiative „19. Februar Hanau“, die genauere forensische Analysen in Auftrag gab. Stephan Anpalagan will dann noch wissen, wie er sich in der Rolle als Buchautor fühle. „Wenn man mich früher gefragt hätte, was ich einmal sein könnte, hätte ich vielleicht gedacht, Rapper. Ein Buch zu schreiben, wäre unvorstellbar gewesen. Heute versuche ich, eine Stimme für diejenigen zu sein, die normalerweise nicht gehört werden.“