Hier der Türke“, da „der Almanci“: Einstige Gastarbeiter begraben den Traum von der Rückkehr

Artikel von Stefanie Scholz
 
Multikulti-Stadt Werdohl: „Gastarbeiterkinder“ Medi und Oya Halilcavusogullari
 
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Oya und Medi Halilcavusogullari: Ihre Eltern sind als Gastarbeiter in den 1960er- und 1970er- Jahren nach Deutschland gekommen. Scholz © Privat

 

Ahmet „Medi“ Halilcavusogullari und seine Frau Oya wurden beide in Deutschland geboren, sind also klassische Vertreter der „Gastarbeiterkinder-Generation“. Die beiden haben sich in Werdohl kennengelernt, geheiratet und mittlerweile zwei gemeinsame Kinder, die natürlich auch in Deutschland geboren wurden. Was wissen sie noch über die Heimat ihrer Eltern?

Werdohl – Medis Vater ist im Dezember 1969 nach Deutschland gekommen, da es zu der Zeit in der Türkei keine Möglichkeit gegeben habe, Arbeit zu finden. Mit dem Zug war er nach München gefahren. „Um damals nach Deutschland zu kommen, musste man in der Türkei einen Antrag beim Arbeitsministerium stellen. Dieser Antrag wurde nach Deutschland verschickt und ein deutsches Unternehmen verpflichtete praktisch meinen Vater“, erzählt Medi. „Weiterhin musste eine Gesundheitszeugnis ausgestellt werden und man durfte nicht älter als 33 Jahre alt sein. Auf diesem Wege ist mein Vater nach Deutschland eingereist“.

Einer der ersten Gastarbeiter

Über mehrere Stationen wie München, Hamburg und Duisburg, wo Medis Vater bei Mannesmann arbeitete, ging es 1977 nach Werdohl. Hier war der Vater von Medi bei Stahlschmidt & Maiworm beschäftigt. „In Duisburg lernte mein Vater dann auch meine Mutter Ayse kennen und die beiden heirateten im Jahr 1973“, sagt Medi. Die Großeltern seines Vaters hätten immer in der Türkei gelebt. Doch die Großeltern mütterlicherseits seien Anfang 1960 mit die ersten Gastarbeiter gewesen, die nach Deutschland gekommen sind.

Das Thema Integration habe 1969, als Medis Vater nach Deutschland kam, noch keine Rolle gespielt. „Der Arbeitsmarkt war voll mit Arbeit wie zum Beispiel im Tagebau, in Kohlekraftwerken, in der Stahl- und auch Automobilindustrie, überall suchte man Arbeiter. Weiterhin wurde zu der Zeit den türkischen Gastarbeitern eine Ein-Zimmer-Wohnung zur Verfügung gestellt, was bedeutete, dass teilweise sechs bis acht Personen in einem Zimmer zusammenlebten. Ein soziales Leben, wie es heute geführt wird, gab es zu der Zeit nicht“, erzählt Medi.

Die Familie wird auseinandergerissen

Ob jemals an eine Rückkehr in die Türkei gedacht wurde? „Ja, das stand tatsächlich mal zur Debatte. Meine ältere Schwester Emel wurde mit neun Jahren in die Türkei geschickt, da mein Opa Frührentner war und er mit meiner Oma für immer zurück in die Türkei gefahren ist. Meine Schwester ist dann bei den beiden Großeltern aufgewachsen, hat dort studiert und wollte nie aus der Türkei weg“, berichtet Medi über das „Auseinanderreißen“ der Familie, was allen schwergefallen sei. Medis jüngere Schwester Yasemin war noch ein Baby und Medi kam damals gerade ins erste Schuljahr.

Ziel sei es gewesen, dass seine Eltern mit seiner jüngeren Schwester und ihm innerhalb von zwei bis vier Jahren wieder in die Türkei zurückkehren. „Die Jahre vergingen und meine Eltern merkten wahrscheinlich, dass hier in Deutschland die Möglichkeiten für uns einfach besser waren“, berichtet Medi.

Medis Vater war 24 Jahre alt, als er in seiner neuen Heimat ankam. Seit nunmehr über 55 Jahren lebt er hier. „Ja er ist ein Türke – aber mit fast 80 Jahren fragt er sich auch manchmal: ,Wo gehöre ich eigentlich hin?‘ Hier ist man der Türke und in der Türkei der ,Almanci‘, der Deutsche“, erklärte Medi und man spürt in dieser Aussage die Zerrissenheit des Vaters.

Die Auswanderung nie bereut

Medis Vater habe es nie bereut, nach Deutschland gekommen zu sein. Deutschland habe ihm viele Dinge ermöglicht. Medi selbst wurde 1977 in Duisburg geboren. Kurz danach kam er mit seiner Mutter nach Werdohl, wo der Vater ja bereits arbeitete.

„Er liebt sein Leben in Deutschland und ist froh, hier zu sein. Meine Mutter ist lieber länger in Deutschland als in der Türkei. Grund ist, dass wir und ihre Enkelkinder hier sind. Ich kann sagen, dass meine Mutter sich sehr wohl in Deutschland fühlt“, freut sich Medi.

Da er eine Schwester in der Türkei hat, würde dadurch auch immer ein Bezug zu diesem Land bestehen bleiben. Auch habe er noch Cousins und Cousinen, zu denen er weiter Kontakt halten möchte.

Unsere Heimat ist Deutschland“

Bei seinen Kindern sehe das natürlich wieder etwas anders aus. Für Batuhan, der im Jahr 2005, und Timuhan, der 2007 in Werdohl geboren wurde, sei die Türkei das Land, wo Oma und Opa herkommen. „Für uns ist es sehr wichtig, unsere Wurzeln nicht zu vergessen, aber unsere Heimat ist Deutschland“, sagt Medi.

„Für mich geht es gar nicht darum, als Deutscher angesehen zu werden. Ich finde, dass es viel wichtiger ist, jemanden so zu akzeptieren, wie er ist; und wenn man sich anpasst, respektiert und akzeptiert, dann sehe ich da kein Problem“, resümiert Medi.

Ähnlich erging es auch Oyas Familie. „1972 ist mein Großvater väterlicherseits als Gastarbeiter nach Stuttgart gekommen, als er in einer Firma arbeiten durfte. Einige Jahre später hat er meinen Vater und dessen Bruder zu sich nach Deutschland geholt, die dann auch beide geblieben sind“, erzählt Oya.

„Überhaupt keine Privatsphäre“

Der Großvater sei nach ein paar Jahren wieder in die Türkei zurückgekehrt. „Mein Onkel blieb in Stuttgart“, berichtet Oya. Ihre Mutter und ihre älteren Geschwister, die zu der Zeit fünf und sechs Jahre alt waren, seien zunächst in der Türkei geblieben. Oyas Vater habe die erste Zeit auf einer Baustelle gearbeitet, danach kurz in einer Lederfabrik. „Mein Onkel mütterlicherseits arbeitete zu der Zeit bei Karl Schmidt/Kolbenschmidt in Werdohl und sorgte dafür, dass mein Vater dort auch eine Arbeitsstelle bekam. So kam mein Vater 1976 nach Werdohl“. Zu dieser Zeit habe er in einem Wohnheim mit vielen Gastarbeitern zusammengelebt. „Dort hatte man überhaupt keine Privatsphäre und mein Vater hat sich dann eine Wohnung in Werdohl gesucht. Als er diese hatte, kamen auch meine Mutter und meine Geschwister im August 1977 nach Werdohl“, erzählt Oya von den damaligen, nicht immer einfachen Lebensumständen. Oya erblickte dann im Jahr 1980 in Werdohl das Licht der Welt.

„Zu dieser Zeit gab es keine Integration. Sie waren schließlich zu ,Gast‘ da. Die Gastarbeiter hatten kaum Berührungspunkte mit den deutschen Mitbürgern. Es hat sich zu der Zeit auch niemand Gedanken gemacht, diese Menschen in die Gesellschaft integrieren zu wollen. Es fiel meinem Vater schwer, allein ohne seine Familie mit vielen anderen Männern zusammenleben zu müssen. Dies war der Grund, warum er meine Mutter und meine Geschwister zu sich nach Deutschland holte“.

Oyas Geschwister hätten die erste Zeit Schwierigkeiten gehabt, da alles befremdlich gewesen sei und sie direkt in die Grundschule mussten, ohne richtig in Deutschland angekommen zu sein

n der Türkei wieder von vorne beginnen

Wie viele andere Gastarbeiter, hatten auch Oyas Eltern den Plan, irgendwann wieder in die Türkei zurückzukehren. Noch bevor Oya in die erste Klasse kommt, sollte die Rückkehr erfolgen. „Jedoch war dies nicht so einfach, wie sich meine Eltern das vorgestellt hatten. Meine Geschwister gingen zur Schule, hatten Freunde und auch meine Eltern hatten sich hier schon ein gewisses Netzwerk aufgebaut, sodass sie hier nicht alles aufgeben und in die Türkei zurückkehren wollten, denn dort hätten sie wieder von vorne anfangen müssen: Für die Kinder eine neue Schule finden, neue Freunde und so vieles mehr. Es fiel ihnen schwer, alles, was sie sich in Deutschland erarbeitet hatten, aufzugeben“, berichtet Oya. Ihre Eltern lebten heute noch hier und verbrächten die Sommer in der Türkei. „Schließlich sind die Kinder, Enkelkinder alle hier in Deutschland“, erzählte Oya.

Und wie ging es den Eltern in der neuen Heimat? „Mein Vater hat sich gut in Deutschland eingelebt. Am Anfang war es natürlich nicht leicht, sich an die neue Umgebung und Kultur zu gewöhnen. Aber im Laufe der Zeit hat er sich hier ein Leben aufgebaut und fühlt sich mittlerweile sehr wohl. Er schätzt die Chancen und Möglichkeiten, die ihm Deutschland geboten hat. Trotz allem bewahrt er auch eine starke Verbindung zu seinen Wurzeln und der Kultur seiner Herkunft“, berichtet Oya. „Für mich ist Heimat dort, wo man seine Kindheit verbracht hat.“

„Für meine Mutter war das Leben hier in Deutschland eine Chance für die eigene Zukunft und die der Kinder. Das neue Leben und die neue Kultur in Deutschland hat sie dennoch sehr verunsichert. Sie hatte lange Zeit Probleme, ihre Kinder in einem Land loszulassen, das ihr völlig fremd war. Sie hatte immer Angst, es könnte etwas passieren. Sie spricht auch nicht sehr gut Deutsch, da sie dachte, dass wir sowieso nach ein paar Jahren wieder zurück in die Türkei gehen werden.

Obwohl sie sich hier mittlerweile sehr wohl fühlt, hat sie dennoch eine Sehnsucht in die Heimat, wo sie herkommt“. Ihre Eltern seien sehr gespalten: „Wenn sie hier sind, sehnen sie sich nach der Türkei, und wenn sie dort sind, sehnen sie sich nach Deutschland. Sie wissen nicht, wo sie hingehören“, beschreibt auch Oya, genau wie ihr Mann Medi, die Zerrissenheit der Eltern.

Da Oyas Eltern aus der Türkei kommen und sie dort noch Verwandtschaft hat, habe sie immer noch einen Bezug zur Türkei. Sie versuche, den Kontakt zu pflegen, deshalb verbrächte sie meistens in den Sommerferien eine Woche mit der Verwandtschaft und eine Woche Urlaub in einem Touristengebiet in der Türkei. Damit auch ihre Kinder, Timurhan und Batuhan, ebenfalls die Möglichkeit hätten, den Kontakt zur Verwandtschaft aufrecht zu erhalten. „Für unsere Kinder ist die Türkei ein Urlaubsland. Da es uns in der eigenen Familie leichter fällt, ist unsere Familiensprache zu 90 Prozent Deutsch, dadurch geht leider unsere Herkunftssprache unter“, bedauert Oya.

Für sie sei es nicht wichtig, als „vollwertige Deutsche“ angesehen zu werden. „Es ist wichtig, egal welcher Nationalität man zugehörig ist und welche Sprache man spricht, sich gegenseitig zu akzeptieren und zu respektieren, damit ein vernünftiges Miteinander funktionieren kann. Allerdings finde ich es traurig, obwohl ich fließend Deutsch spreche und zu der Gesellschaft mit meiner Leistung beitrage, dass mir immer noch im Alltag Rassismus begegnet“, sagt Oya.


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