Ekrem İmamoğlu: Erdoğan ist nicht mehr alternativlos

                                                              Geschichte von Can Dündar
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Dreimal schon hat der Sozialdemokrat Ekrem İmamoğlu die Erdoğan-Partei AKP auf kommunaler Ebene besiegt. Nun besucht der Hoffnungsträger der türkischen Opposition Berlin.

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Sozialdemokraten unter sich: Ekrem İmamoğlu mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (unscharf im Vordergrund) © Bernd von Jutrczenka/​AP/​dpa

 

Er heißt Ekrem İmamoğlu und stammt, wie sein Nachname – "Sohn des Imams" – bereits andeutet, aus einer konservativen Familie. Sein Vater stand in den 1980er-Jahren dem Regionalverband einer rechtsgerichteten Partei am Schwarzen Meer vor. 1971 geboren, besuchte Ekrem noch vor der Einschulung einen Korankurs. Sein Großvater hingegen, ein Veteran aus dem türkischen Befreiungskrieg, lehrte ihn die Liebe zur Republik. So wuchs er genährt von den beiden Hauptadern auf, die in der Türkei seit 100 Jahren im Widerstreit zueinander stehen. Seine Fähigkeit, in dem zutiefst polarisierten Land Menschen aller Milieus anzusprechen, ist wohl der wichtigste Grund dafür, dass er als künftiger Staatschef der Türkei gehandelt wird.

Als İmamoğlu Ende 2018 von der sozialdemokratischen CHP als Bürgermeisterkandidat für Istanbul aufgestellt wurde, war er weitgehend unbekannt. Er konnte zwar Erfolge als Bezirksbürgermeister in Istanbul vorweisen, doch dass es ihm gelingen würde, die seit der Wahl Erdoğans zum Oberbürgermeister 1994 von Islamisten regierte Metropole zurückzuholen, glaubte kaum jemand. Trat er doch gegen den letzten Premierminister der AKP an.

İmamoğlus Berater planten seinen Wahlkampf akribisch. Vor allem sollte er Erdoğan auf keinen Fall direkt ansprechen und nicht polemisieren. Er sollte nicht mit dem Abzeichen seiner Partei auftreten, sondern als Jungstar. Fotos von ihm mit seiner Mutter im Kopftuch sollten ebenso lanciert werden wie solche mit seiner modernen Ehefrau. Sein Rivale war der "alte" Premier, er hingegen das "neue" Gesicht der Politik. Der Verdruss über die Partei, die in der Stadt seit bald 25 Jahren an der Regierung war, sollte ihm zugutekommen. Im Straßenwahlkampf gewann er die Sympathie konservativer Wähler mit Worten wie: "Betet für mich, das ist mir wichtiger als eure Stimme." Auch der kurdischen Wählerschaft gegenüber trat er freundschaftlich auf. So gewann er mit 4.169.000 gegen 4.156.000 Stimmen knapp die Wahl.

Erdoğan, der seine politische Laufbahn selbst als Bürgermeister von Istanbul begonnen hatte und von dort aus zum Staatspräsidenten aufgestiegen war, erkannte die Gefahr und beging in seiner Panik einen schweren Fehler: Er übte Druck auf den ihm ergebenen Hohen Wahlrat aus und ließ die Wahl annullieren. Er hoffte, sein Kandidat würde aufholen und als Sieger aus der Neuwahl hervorgehen. Doch das Gegenteil geschah. Auf einer Großkundgebung legte İmamoğlu sein Jackett ab, krempelte die Ärmel auf und rief: "Ich bin jung und enthusiastisch und gebe nicht auf!" Auf eben solche Entschlossenheit schien die Bevölkerung gewartet zu haben. Als ein Student im Gefolge des Kampagnenbusses rief: "Alles wird sehr gut!", machte İmamoğlu diese Hoffnung zu seinem Slogan, und die enttäuschte Bevölkerung klammerte sich daran. Er gewann die Wahlwiederholung mit satten 800.000 Stimmen Vorsprung und übernahm den Bürgermeisterposten als jener Politiker, dem es gelungen war, die AKP zweimal in Folge zu schlagen.

Den dritten Sieg holte İmamoğlu jetzt am 31. März, als er bei den Kommunalwahlen ein weiteres Mal gegen die AKP gewann. Während Kemal Kılıçdaroğlu, der ehemalige Vorsitzende der CHP und Oppositionsführer 2023, aus dem Amt schied, nachdem er alle Wahlen, in denen er gegen Erdoğan angetreten war, verloren hatte, strahlte İmamoğlu als neuer Star der Opposition auf. Erdoğan wiederum versuchte, İmamoğlu wegen einer Rede zu einer Haftstrafe verurteilen und mit Politikverbot belegen zu lassen. Doch auch dieser Vorstoß scheiterte. Dank seiner Fähigkeit, breite Kreise anzusprechen, seines staatsmännischen Empfangs von EU-Botschaftern und seines Fokus auf Medienwirksamkeit legte İmamoğlu in der Wählergunst weiter zu. Als wichtige Botschaft des Westens wurde verstanden, dass Bundespräsident Steinmeier bei seiner jüngsten Türkei-Reise noch vor Erdoğan mit İmamoğlu zusammentraf und sich mit ihm fotografieren ließ.Derzeit sehen viele in der Türkei wie auch im Westen İmamoğlu als Herausforderer Erdoğans bei den nächsten Präsidentschaftswahlen, ja als seinen Nachfolger. Aufmerksam wird registriert, dass er wie Erdoğan vom Schwarzen Meer stammt, als Gymnasiast Fußball gespielt und gleichfalls zu Beginn seiner Karriere die großen alten Persönlichkeiten der Politik herausgefordert hat, und dass er allen, insbesondere dem Westen, gegenüber, moderat auftritt. Allerdings befürchten auch manche, sein rasanter Aufstieg und sein ausgeprägtes Selbstvertrauen könnten ihn zu einem "neuen Erdoğan" werden lassen. Die Mehrheit betrachtet ihn aber offenkundig als politische Führungspersönlichkeit, die in der Lage ist, den von Erdoğan in über 20 Regierungsjahren verursachten Niedergang auszugleichen und die einander hassenden Fraktionen der gespaltenen Gesellschaft zu versöhnen. Wenn İmamoğlu bald wie geplant Berlin besucht, dürfte das diesen Eindruck verstärken. Bei den letzten Wahlen büßte Erdoğan bereits das Image der Unbesiegbarkeit ein, durch İmamoğlu verliert er nun auch den Vorzug, "alternativlos" zu sein.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe