Nach den Kommunalwahlen: Türkische Wirtschaft: Durchs Tal der Tränen

       Geschichte von Mattheis, Philipp

 

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                                                          Türkische Werung

 

Erdogan hat sich spät den wirtschaftlichen Problemen der Türkei gewidmet – mit gravierenden Folgen: Die Inflation liegt noch immer bei rund 70 Prozent. Wie schwierig die Situation ist und wie sich dies im Alltag zeigt.

Die gute Nachricht vorab: Die türkische Demokratie ist noch lange nicht tot. Die Opposition hat am vergangenen Wochenende die Kommunalwahlen gewonnen – und das, obwohl der türkische Präsident Erdogan und seine AK-Partei seit Jahren die Medien dominieren. Die größte Oppositionspartei CHP kam auf 38 Prozent der Stimmen, während die AKP 36 Prozent erhielt. Bei den letzten Kommunalwahlen 2019 führte die Regierungspartei landesweit noch mit 44 Prozent.

Die CHP hatte sich nach ihrer Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Mai endlich von ihrem glücklosen Anführer Kemal Kılıçdaroğlu getrennt. An dessen Stelle ist der junge, energetische Özgür Özel getreten. Das zeigt, dass die Nachfolgepartei Kemal Atatürks doch noch zur inneren Erneuerung fähig ist. In Istanbul konnte der charismatische Ekrem Imamoğlu sein Amt als Bürgermeister der 15-Millionen-Metropole verteidigen. Imamoglu hatte 2019 die größte Stadt der Türkei gewonnen und damit eine Jahrzehnte lange Herrschaft der AKP beendet. Manche sahen darin den Anfang vom Ende Erdogans, der seine Karriere in den 1990er-Jahren als Bürgermeister von Istanbul begonnen hatte.

Hinter dem Jubel aber wartet für Sieger und Verlierer gleichermaßen eine Tragödie – die wirtschaftliche Situation des Landes ist desaströs, und keine politische Fraktion wird daran kurzfristig etwas ändern können. Gestärkt hat die Wahl aber immerhin die Vertreter einer orthodoxen Finanzpolitik: „Bei diesen Wahlen ging es vor allem um die Inflation“, schrieb der Türkei-Analyst Timothy Ash in seinem Substack. „Sie sind eine Protestabstimmung gegen die gescheiterte Wirtschaftspolitik des letzten Jahrzehnts unter der regierenden AKP.“

Mit Recht kann man Erdogan vorwerfen, im vergangenen Jahr erneut Öl ins Feuer gegossen zu haben. Um Inflation und Wechselkurs halbwegs stabil zu halten und den Wahlausgang nicht zu gefährden, hatte er die Zentralbank dazu angehalten, letzte Devisen- und Goldreserven auf den Markt zu werfen. Bis zur Wahl Ende Mai 2023 bekam man für einen Euro rund 20 türkische Lira. Auch die Zinsen wurden auf Geheiß Erdogans künstlich niedrig gehalten: Während die Inflation bei rund 40 Prozent grassierte, lag der Leitzins bei 8,5 Prozent. Hinzu kamen Wahlgeschenke in Form von einem Monat kostenlosen Erdgas.

Wie Erdogan die Wirtschaft retten wollte

Nach der von Erdogan knapp gewonnenen Wahl hörten die Stützungskäufe abrupt auf. In der Folge verlor die türkische Lira rasant an Wert. Keine zwei Monate später bekam man für einen Euro schon 30 türkische Lira. Derzeit sind es rund 35.

Erdogan jedenfalls hatte sein Ziel erreicht: Er konnte am 29. Oktober 2023 als bedeutendster Staatspräsident des Landes nach Gründer Kemal Atatürk den hundertjährigen Geburtstag der Türkischen Republik feiern. Danach widmete er sich endlich den wirtschaftlichen Problemen.

Er holte den für seine orthodoxe Finanzpolitik bekannten Mehmet Simsek zurück und machte ihn wieder zum Finanzminister. Simsek hatte dieses Amt schon einmal innegehabt, Erdogan aber hatte ihn 2018 durch seinen eigenen Schwiegersohn ersetzt (der sich nach kurzer Zeit als ziemlich unfähig erwies). Chefin der Zentralbank wurde die erst 44-jährige Hafize Gaye Erkan. Das Duo bekam die schwierige Aufgabe, die türkische Wirtschaft durch das Tal der Tränen zu führen. Denn für die allermeisten Türken ging die Misere jetzt erst richtig los.

Simsek und Erkan erhöhten die Zinsen, um die grassierende Inflation einzudämmen. Im Juni 2023 begannen sie mit Zinserhöhungen, um dem überhitzten Kreislauf Geld zu entziehen. In mehreren Zinsschritten hoben sie die Leitzinsen auf aktuell 50 Prozent an. Zahlreiche Analysten waren und sind sich einig, dass dies der richtige Weg aus der Misere ist. Der Preis des Geldes müsse mit Zinsen erhöht werden, um die Preissteigerungsspirale zu durchbrechen.

Nur: Ist die Inflation einmal so hoch, ist es ungleich schwieriger, diese nochmals einzufangen. Am Leidensdruck der türkischen Bevölkerung hat sich bisher nichts geändert. Im Gegenteil: Die Inflation liegt aktuell noch immer bei rund 70 Prozent. Gemäß der Taylor-Rule müssten die Leitzinsen oberhalb der Preissteigerungsrate liegen. Ein Abwürgen der Kreditaufnahme aber würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Rezession führen. Der Prozess ist also noch lange nicht zu Ende.

Die Wirtschaft wächst formal zwar relativ stabil zwei bis drei Prozent. Hinter den Kulissen aber ist die Krise längst voll angekommen. Viele türkische Familien sparen an Grundlegendem – wie Nahrungsmitteln. Fleisch steht kaum mehr auf dem Speiseplan. Auch die Nachrichten über Lebensmittelskandale häufen sich – Restaurants kochen mit minderwertigen Zutaten, um überhaupt noch Kunden bekommen zu können. Horrende Mieterhöhungen zwingen viele in andere Viertel umzuziehen und zerstören das soziale Gefüge.

Am Wahlabend sagte Präsident Erdogan zu seinen Anhängern, die „Regierung werde sich jetzt darauf fokussieren, die Wirtschaft in Gang zu bringen.“ Er versprach, der Kampf gegen die Inflation werde spätestens in einem Jahr Früchte zeigen – eine Inflation, die er durch seine unorthodoxe Politik selbst verursacht hat, um Wahlen zu gewinnen.

Die Märkte reagierten auf die Wahlergebnisse verhalten positiv: Die türkische Lira gewann rund zwei Prozent zum Euro, und auch der türkische Leitindex legte leicht zu. Am Ende aber wissen die Märkte: Es wird vermutlich erst noch schlimmer werden, bevor es besser wird.

Zentralbank-Chefin Hafize Erkan war übrigens im vergangenen Februar von ihrem Amt zurückgetreten. Zuvor hatte sie – sehr zum Ärger Erdogans – öffentlich bekannt gegeben, dass sie aufgrund der horrenden Mieten in Istanbul wieder bei ihren Eltern eingezogen war.