Deutschland verliert sich immer mehr im Klein-Klein um Ampelmännchen, Gendersternchen und Cannabislegalisierung. Bei großen Themen folgt einer guten Intention meist Realitätsferne. Wann kehren wir zurück zu einer ideologiefreien, pragmatischen Politik?
„Ich würde uns zu der Gruppe der Verlorenen zählen. Früher waren wir interessiert und politisch engagiert. Aber schon seit ein paar Jahren machen wir das nicht mehr. Wen sollen wir denn noch wählen, wenn alle ins gleiche Horn blasen?!“
Dieser Kommentar erreichte mich vor Kurzem als Reaktion auf einen Gastbeitrag. Doch es ist leider nicht das erste Mal, dass ich mich mit Menschen unterhalte, die sich in Deutschland nicht mehr vertreten fühlen.
Auf der Suche nach einer lösungs- und vernunftgeleiteten Politik, die die Interessen der Bürger ernst nimmt, stoßen wir auf dilettantische Politikdarsteller, die sich im ideologischen Diskus verrennen. Der gesunde Menschenverstand ist als Korrektiv verloren gegangen.
Wir bewegen uns schleichend in Richtung Planwirtschaft
Deutschland verliert sich immer mehr im Klein-Klein um Ampelmännchen, Gendersternchen, Werbeverbote für bestimmte Lebensmittel und der Cannabislegalisierung. Bei großen Themen wie dem Arbeitskräftemangel, der Migration oder der schwindenden Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandorts folgt einer guten Intention meist Realitätsferne.
Diskussionen zur Steuergerechtigkeit, zur kollabierenden Altersvorsorge und zum maroden Bildungssystem werden überhört. Parallel bewegen wir uns schleichend in Richtung Planwirtschaft. „Vater Staat wird es schon richten“ wird auch unter der Ampelregierung als Leitbild fortgeführt.
Massive Subventionierungen, eine steigende Verbotspolitik, nationale Alleingänge, neue bürokratische Auflagen und immense Steuern und Abgaben gehören zum täglichen Repertoire der deutschen Staatslenkung. Begründet wird dies mit der Behauptung, Fortschritt zu fördern.
Wer soll alles bezahlen, wenn unsere Wirtschaft durch Regulierungswut erstickt?
Doch wissen wir denn nicht eigentlich seit Langem, wo wir hinwollen und müssen?
Die zentralen Herausforderungen sind nicht neu: Fragen rund um Bildung, Energie, Arbeitskräftemangel, Migration, Klimaschutz und Digitalisierung müssen generationengerecht beantwortet werden. Dreifache Nachhaltigkeit lautet das Stichwort. Zukunft ökonomisch, sozial und ökologisch denken.
Für eine starke Wirtschaft braucht es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen staatlicher Intervention und Marktfreiheit. Denn wer soll alles bezahlen, wenn wir unserer Wirtschaft gleichzeitig keine Chance auf Wachstum ermöglichen? Wenn wir sie regelrecht in unserer Regulierungswut ersticken?
Auf der Suche nach einer attraktiven Standortpolitik lohnt auch immer der Blick ins Ausland. Finnland und Estland bestechen zum Beispiel durch eines der besten Bildungssysteme der Welt. Dank einer Umstellung auf digitales Lernen, einem hohen Ansehen für Lehrkräfte und mehr individueller Unterstützung für Schüler wundert es nicht, dass beide Länder im PISA-Vergleich der OECD die Spitzenplätze belegen.
Über die Kolumnistin
Sarna Röser ist Unternehmerin, Aufsichtsrätin, Beirätin und Bundesvorsitzende a.D. des Wirtschaftsverbandes "Die jungen Unternehmer". Im Juli 2020 wurde sie als jüngstes Mitglied in den Aufsichtsrat der Fielmann AG gewählt. Des Weiteren ist sie seit 2020 eine der jüngsten Beirätinnen der Deutschen Bank AG, sowie seit 2021 als Beirätin der neuen Coding School 42 der Dieter-Schwarz-Stiftung (LIDL/Kaufland) aktiv.
Sarna Röser ist u.a. durch ihre Teilnahme als Gast-Löwin in der 11. Staffel der VOX-Sendung „Die Höhle der Löwen“ einem breiten Fernsehpublikum bekannt. Das Wirtschaftsmagazin Capital zählt sie zu den Top 40 unter 40 Talenten der deutschen Wirtschaft und das Handelsblatt zu den 100 Frauen, die Deutschland voranbringen.
Der klimapolitische Alleingang Deutschlands muss endlich ein Ende haben
Wie der digitale Wandel gelingen kann, machen zum Beispiel die Niederlande vor. Der nationale Wachstumsfonds, der sukzessive Ausbau des Breitbandzugangs und der Einsatz digitaler Technologien in Unternehmen gehören zu zentralen Schlüsselmechanismen.
Dass Deutschland hingegen auf dem Digitalindex der EU nur noch im Mittelfeld spielt, wundert wenig. Bis heute fehlt eine zentrale Digitalisierungsstrategie. Zwar werden viele Einzelprojekte ins Schaufenster gestellt, doch ein zukunftsfähiges Gesamtkonzept fehlt.
Auch mit Blick auf die Energie- und Klimapolitik hat Deutschland einiges aufzuholen. Schaut man sich aktuelle Rankings an, machen wir nicht die beste Figur. Klar ist doch, dass es nicht mehr darum geht, ob man Klimaschutz betreiben muss, sondern wie!
Wer bei den Klimafolgen auf die Naturwissenschaftler hört, muss bei der Ausgestaltung bitte auch auf die Ökonomen hören. Der klimapolitische Alleingang Deutschlands muss endlich ein Ende haben. Die massive Subventionierung der erneuerbaren Energien, die Verteuerung des Stroms durch Abgaben und Steuern, dass Unternehmer unter Generalverdacht gestellt werden, dem Klima zu schaden – all das führt dazu, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht mehr attraktiv genug ist und wir uns den Weg in Richtung einer grünen Zukunft schlichtweg nicht mehr leisten können.
Mithilfe von Technologieoffenheit und einem sektorenübergreifenden Emissionshandel könnten wir den CO2-Ausstoß über ein marktwirtschaftliches Instrument reduzieren.
In Vietnam erlebte ich, wie Wirtschaftswachstum funktioniert
Mit verschiedenen mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmern hatte ich im letzten Jahr zudem die Möglichkeit, einzelne Länder persönlich kennenzulernen. Auf unserer Delegationsreise nach Israel im Februar 2023 wurde deutlich: Technologie, Cybersicherheit und Künstliche Intelligenz wurden die letzten Jahre in Israel mit massivem Tempo vorangebracht. Statt jungen Unternehmen Steine in den Weg zu legen, setzte das Land auf eine gut entwickelte Risikokapitalbranche, die Förderung von MINT-Talenten und auf verschiedene Initiativen und Anreize seitens der Regierung durch Steuervergünstigungen, staatliche Garantien und Forschungsprogramme.
In Vietnam haben wir uns davon überzeugen können, wie Wirtschaftswachstum funktioniert. Nicht nur ist Vietnam ein Vorreiter mit Blick auf Handel und Export, sondern auch durch die Förderung von Unternehmertum seitens der Regierung. Die junge, fleißige und technologieoffene Bevölkerung zählt fast 100 Millionen Einwohner mit einem Durchschnittsalter von 30 Jahren und einem BIP-Wachstum von rund 8 Prozent.
Damit wird Vietnam zu einem echten alternativen Handelspartner im südostasiatischen Raum. Mittels einer speziell dafür eingerichteten Taskforce im Ministerium für Planung und Investitionen sollen in Vietnam zukünftig alle Anliegen des deutschen Mittelstandes und der deutschen Unternehmen an oberster Stelle bearbeitet werden. Deutsche Unternehmer: Happy Welcome!
Der Abwärtstrend macht sich auch im Mittelstand bemerkbar
Abgesehen davon, dass in Ländern wie Vietnam ein Mindset des Machens und des Aufbruchs hautnah zu spüren ist, wird klar: Der Wettbewerb um die deutschen Hidden Champions und zukünftigen Standorte ist bereits in vollem Gange – und das Interesse der heimischen Wirtschaft wächst.
Die Liste an Vorzeigemodellen ist lang. Natürlich ist klar, dass sich einzelne Beispiele nicht immer 1:1 auf Deutschland übertragen lassen. Dennoch zeigt der Vergleich: Andere Länder überholen uns in wichtigen Disziplinen. Kein Wunder, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland im vergangenen Jahr unter 64 verglichenen Ländern um sieben Plätze auf Rang 22 zurückgefallen ist.
Dieser Abwärtstrend macht sich auch im Mittelstand bemerkbar. Mittlerweile gibt jeder zweite Unternehmer an, dass er seinen Betrieb in Zukunft außerhalb von Deutschland aufbauen würde. Auch die Investitionsvorhaben schwinden. Mehr als jeder Dritte plant derzeit gar keine Investitionen. Als Gründe nennt mehr als jeder zweite Unternehmer Bürokratiekosten und Überregulierung.
Die Rückkehr in eine ideologiefreie, pragmatische Politik
Um diese Entwicklung umzukehren und eine soziale, leistungsstarke und klimaschonende Zukunft zu ermöglichen, müssen wir künftig eine ausgewogene Wirtschaftspolitik verfolgen. Wir brauchen eine berechenbare Politik, die sowohl auf nationale Stärkung als auch auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtet ist.
Dafür müssen wir uns bewusst werden, wo wir als Gesellschaft hinwollen, und wie wir unsere Ziele erreichen können. Die Lösungsbeispiele liegen uns vor. Das Rad muss nicht neu erfunden werden.
Ich bin davon überzeugt, dass wir den freien Fall unseres Wirtschaftsstandorts mit einem klugen Mix aus interner und externer Standortpolitik noch rechtzeitig aufhalten können, wenn wir zu einer ideologiefreien, pragmatischen Politik zurückkehren - und endlich ins Machen kommen!