Erdogan-kritische Journalistin muss mit 79 Jahren wieder ins Gefängnis

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Erdogan-kritische Journalistin muss mit 79 Jahren wieder ins Gefängnis
Nazli Ilicak, eine der renommiertesten Journalistinnen der Türkei, befindet sich erneut hinter Gittern, die 79-Jährige muss eine zweieinhalbjährige Haftstrafe antreten. Ihr Vergehen: die Kritik an einem Staatsanwalt in einem Artikel vor sieben Jahren. Die Türkei schneidet aktuell bei der Pressefreiheit sogar noch schlechter ab als Russland, Venezuela und Belarus.
Die türkische Journalistin Nazli Ilicak ist eine Kritikerin Erdogans
Die türkische Journalistin Nazli Ilicak ist eine Kritikerin Erdogans © Bereitgestellt von PCLMedia
 
Die türkische Journalistin Nazli Ilicak ist eine Kritikerin Erdogans/MMSInt

pclmedia Mi., 06.12.2023 - 19:34

Die türkische Journalistin Nazli Ilicak hat im Laufe ihres Lebens schon häufiger Bekanntschaft mit dem Strafvollzug gemacht. Die prominente Kritikerin des Staatschefs Recep Tayyip Erdogan wurde sogar wegen angeblicher Beteiligung an dem Putschversuch vom Sommer 2016 zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Berufungsgericht kippte das Urteil 2021.

Aber jetzt ist es wieder einmal so weit: Seit Montag sitzt Ilicak nicht mehr im Wohnzimmer ihrer Istanbuler Villa mit Blick auf den Bosporus, sondern in einem Gefängnis im nordwesttürkischen Sakarya. Die 79-Jährige soll eine zweieinhalbjährige Haftstrafe verbüßen, weil sie in einem vor sieben Jahren verfassten Artikel einen Staatsanwalt kritisierte.

Für viele ist Nazli Ilicak eine der großen alten Damen des türkischen Journalismus. Die aus einer großbürgerlichen Familie stammende Ilicak besuchte ein französisches Gymnasium in Istanbul und studierte in Lausanne, bevor sie 1969 durch die Ehe mit dem Zeitungsverleger Kemal Ilicak zum Journalismus kam. 1999 wurde Ilicak auf der Liste der islamistischen Tugend Partei ins Parlament gewählt. Nach dem Verbot der Partei suchte sie Anschluss an Erdogans AKP. Aber die Ende 2013 aufgekommenen Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan, seine Familie und einige seiner Minister führten zum Bruch.

Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 wurde Ilicak ihre bekannte Nähe zur Bewegung des Exilpredigers Fethullah Gülen zum Verhängnis. Erdogan sieht in seinem früheren Verbündeten Gülen, mit dem er sich 2013 überwarf, den Drahtzieher der Putschpläne. Gemeinsam mit den Journalisten Mehmet und Ahmet Altan wurde Ilicak verhaftet,vor

Gericht gestellt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Urteilsbegründung: Ilicak und die Altan-Brüder hätten vor dem Putschversuch in einer TV-Sendung "sublime" Andeutungen über einen bevorstehenden Staatsstreich gemacht.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verwarf das Urteil als unbegründet und verurteilte die Türkei zu 16.000 Euro Schadenersatz. Auch vor dem türkischen Appellationsgericht hatte der Richterspruch keinen Bestand. Nach dreieinhalb Jahren Haft kam Ilicak Ende 2019 frei. Das Berufungsgericht entschied 2021, dass der Fall neu verhandelt werden muss – wann es dazu kommt, ist unklar.

Regierungskritische Journalisten haben in der Türkei einen schweren Stand. Nach Recherchen der Oppositionspartei CHP mussten sich in den Monaten Oktober und November 144 Medienschaffende vor Gericht verantworten. Elf Journalistinnen und Journalisten wurden in diesem Zeitraum festgenommen. Die meisten Verfahren stützen sich auf ein neues Zensurgesetz, das im Herbst 2022 verabschiedet wurde. Es bedroht die "Verbreitung falscher Nachrichten" mit Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren. Was "falsch" ist, entscheiden Regierung und Justiz.

Nach Einschätzung des International Press Institute (IPI) kontrolliert Erdogan 90 Prozent der Printmedien und des Fernsehens. Fast alle großen Zeitungen und TV-Sender sind in der Hand Erdogan-naher Unternehmer. In den vergangenen Jahren hat die Regierung auch die Kontrolle von Internetportalen und sozialen Netzwerken erheblich verschärft. So war das Onlinelexikon Wikipedia in der Türkei fast drei Jahre lang komplett gesperrt, weil es Einträge enthielt, die der Regierung nicht gefielen.

In der Rangliste zur Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) liegt die Türkei 2023 unter 180 beobachteten Ländern auf Platz 165. Gegenüber dem Vorjahr fiel das Land damit um 16 Plätze zurück. Die Türkei schneidet damit bei der Pressefreiheit sogar noch schlechter ab als Russland, Venezuela und Belarus.

dp/pcl