Debatte über vermeintlich genozidale Absichten Israels in Gaza : Grenzen der Solidarität
Die Möglichkeit eines Völkermords durch Israel in Betracht ziehen? Im „Guardian“ antwortet eine Gruppe Historiker und Philosophinnen „zutiefst betroffen“ auf Jürgen Habermas.
Vor gut einer Woche veröffentlichte der Philosoph Jürgen Habermas auf der Website des Forschungszentrums „Normative Orders“ der Frankfurter Goethe-Universität zusammen mit drei Kollegen eine Stellungnahme zum Nahost-Krieg, überschrieben mit dem Titel „Grundsätze der Solidarität“.
Darin spricht Habermas von einem „prinzipiell gerechtfertigten Gegenschlag“ Israels auf den „an Grausamkeit nicht zu überbietenden Angriff der Hamas“. Zudem beklagt er, dass die Maßstäbe – bei aller Sorge um das Schicksal der palästinensischen Zivilbevölkerung – verrutschen würden, „wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden.“
Tiefe Betroffenheit
Nun hat es darauf aus dem internationalen akademischen Betrieb eine Erwiderung gegeben. Im britischen „Guardian“ hat eine Gruppe Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen einen Brief veröffentlicht, darunter der britische Historiker Adam Tooze, der US-Rechtshistoriker Samuel Moyn, die aus Bahrain stammende Philosophin Amia Srinivasan und auch der in Wien lehrende Poptheoretiker Diedrich Diederichsen, und zwar unter der Überschrift: „Der Grundsatz der Menschenwürde muss für alle Menschen gelten“.
Tief betroffen“ sei man von der Stellungnahme von Habermas und den Seinen, so hebt dieser Brief an, „deeply troubled“, gerade weil die Grenzen der Solidarität darin so eng gezogen würden. „Die in der Erklärung zum Ausdruck gebrachte Sorge um die Menschenwürde wird nicht angemessen auf die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza ausgedehnt, die mit Tod und Zerstörung konfrontiert ist“, so heißt es in diesem Brief im „Guardian“. „Sie wird auch nicht auf die Muslime in Deutschland angewandt oder ausgedehnt, die eine zunehmende Islamophobie erleben.“
Enge Grenzen der Solidarität
Vor allem aber beziehen sich die Verfasser und Verfasserinnen auf den Hinweis von Habermas, dass in der Debatte um den Krieg in Nahost Israel mit seinem Vorgehen im Gaza-Streifen und dem Vorsatz, die Hamas „vernichten“ zu wollen, immer wieder ein Genozid an der palästinensischen Zivilbevölkerung oder mindestens genozidale Absichten unterstellt würden.
Habermas nimmt Israel genau davor, mahnt aber die „Grundsätze der Verhältnismäßigkeit“ an, „die Vermeidung ziviler Opfer und die Führung eines Krieges mit der Aussicht auf künftigen Frieden“. Die Erwiderung im „Guardian“ suggeriert im Grunde, dass Israel dabei sei, einen Völkermord zu verüben. Zitiert wird Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University in Providence, Rhode Island, der gesagt habe, dass es wichtig sei, „vor einem möglichen Völkermord zu warnen, bevor er stattfindet, anstatt ihn erst zu verurteilen, wenn er bereits stattgefunden hat.“
Daraus folge, dass „Solidarität zu zeigen und die Menschenwürde zu achten bedeutet, dass wir diese Warnung beherzigen und den Raum für Diskussionen und Überlegungen über die Möglichkeit eines Völkermordes nicht schließen dürfen.“
So verweisen Tooze, Moyn, Srinivasan und Co auf Diskussionen unter Rechtsexperten und Völkermord-Wissenschaftlern, „ob die rechtlichen Voraussetzungen für Völkermord erfüllt“ seien. Ob es sich bei Israels Vorgehen gerade auch im Hinblick auf die Zerstörung ziviler Infrastruktur wie Krankenhäusern, Schulen, Gebetsstätten und der Trinkwasserversorgung nicht schon um die Vorstufe eines Genozids handele.
Man wirft Habermas vor, all das auszublenden in seinen Grundsätzen der Solidarität. Doch obwohl die Erklärung zu Beginn eher pflichtschuldigst den Hamas-Terror verurteilt, die Tötung und Geiselnahme israelischer Zivilisten, blendet sie ihrerseits eine Diskussion darüber aus, dass gerade dem Vorgehen der Hamas am 7. Oktober genozidale Absichten zugrunde liegen, dass es ein erklärtes Ziel der Hamas ist, Israel zu vernichten.
Von einem „großen Erschrecken über die Reaktionen und Ansichten der jeweils anderen“ hat der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich vor kurzem in einem Beitrag im Tagesspiegel über das Zerbrechen des Kulturbetriebs geschrieben. Es bestehe die Möglichkeit von irreversiblen Brüchen und Verletzungen. Der Brief im „Guardian“ beweist, dass es im akademischen Betrieb nicht viel anders aussieht.