Verfassungskrise in Ankara: Türkisches Berufungsgericht zeigt Verfassungsrichter an

Artikel von Friederike Böge FAZ

 

Türkische Abgeordnete zeigen im Juni im Parlament in Ankara ein Bild von Can Atalay

Türkische Abgeordnete zeigen im Juni im Parlament in Ankara ein Bild von Can Atalay © Reuters

In der Türkei droht eine Verfassungskrise, nachdem das Oberste Berufungsgericht des Landes am Mittwochabend Strafanzeige gegen Richter des Verfassungsgerichts gestellt hat. Es wirft ihnen vor, mit einem Urteil zugunsten des inhaftierten Abgeordneten Can Atalay von der linken Arbeiterpartei das Recht gebrochen und ihre Kompetenzen in illegaler Weise überschritten zu haben. Zugleich weigert sich das Berufungsgericht, die Entscheidung umzusetzen, wonach Atalay freigelassen werden müsste. Der Kassationshof selbst hatte erst kürzlich die Verurteilung Atalays zu 18 Jahren Haft wegen angeblicher Beihilfe zu einem Umsturzversuch bestätigt. Als Anwalt hatte Atalay 2013 Teilnehmer der Gezi-Proteste vertreten.

Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Özgür Özel, sprach am Donnerstag von einem „Putschversuch“ des Kassationshofs. Auch manche Politiker der Regierungspartei AKP kritisierten den Vorstoß. Der für Justizfragen zuständige stellvertretende Parteivorsitzende Hayati Yazıcı schreib auf der Plattform X: „Wir erleben etwas, das nie hätte passieren dürfen.“

Hinter dem Machtkampf in der türkischen Justiz steht möglicherweise Erdoğans Koalitionspartner Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der rechtsextremen MHP. Er hat die Abschaffung oder radikale „Umstrukturierung“ des Verfassungsgerichts gefordert. Seine Partei soll über erheblichen Einfluss im Justiz- und Polizeiapparat verfügen. Nachdem das Gericht im März eine Freigabe der blockierten Bankkonten der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP angeordnet hatte, warf Bahçeli den Richtern Hochverrat vor. Später bezichtigte er den Präsidenten des Verfassungsgerichts, die „Existenz der Nation“ zu gefährden. Das bezog sich auf eine Rede in der der Richter sich dafür ausgesprochen hatte, kulturelle Differenzen zu akzeptieren.

Im Vergleich zu anderen Gerichten genießt das Verfassungsgericht in der Türkei noch ein gewisses Ansehen, weil es bisweilen gegen die Interessen der Regierung entscheidet. Allerdings hat der Präsident im Laufe seiner Amtszeit seinen Zugriff auf das Gericht kontinuierlich erhöht. Vier der fünfzehn Richter werden direkt vom Präsidenten ernannt. Acht weitere wählt er aus Vorschlägen anderer Institutionen aus.