Bundespräsident empfängt Juden und Muslime: „Viele fragen sich, ob sie im Land noch einen Platz haben“

Artikel von Julius Betschka  •Tagessiegel

 

Am Mittwoch hat sich der Bundespräsident in einer Ansprache an die Deutschen gerichtet. In der Diskussion wurden vor allem die Leerstellen offenbar, die deutsche Politiker lassen – auch Steinmeier selbst.

Steinmeier bei einer Rede in Bratislava

Steinmeier bei einer Rede in Bratislava © Foto: AFP/VLADIMIR SIMICEK

 

Die Worte von Jouanna Hassoun hallen im Großen Saal von Schloss Bellevue wie eine Ohrfeige an die deutsche Mehrheitsgesellschaft. „Es ist längst kein Risiko mehr, es ist schon eingetroffen, dass sich viele Menschen in diesem Land fragen, ob sie hier noch einen Platz haben“, sagt Hassoun.

Die in Palästina geborene Sozialmanagerin Hassoun schaut mit klarem Blick und Beben in der Stimme in das Rund des Tisches. „Viele arabische Jugendliche haben sich hier immer wohlgefühlt. Jetzt sind sie verzweifelt.“

 „Ich empfinde einen Schmerz, und auch Jouanna empfindet Schmerz“

Gemeinsam mit anderen Muslimen und Juden, die sich für Verständigung einsetzen, wurde Hassoun von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an diesem Mittwoch hierhin eingeladen.

 Was war, das war, aber es darf nie wieder geschehen.

Margot Friedländer, Holocaust-Überlebende

Steinmeier sitzt mit in der Runde, hört konzentriert zu. Die Holocaustüberlebende Margot Friedländer ist Ehrengast, sitzt mit am Tisch, dazu die jüdischen und muslimischen Macher vorbildlicher Projekte gegen Hass. Leute also, denen man wohl zuhören sollte.

Hassoun spricht von der Situation an den Schulen im Land, von den täglichen Videos vom Sterben in Gaza in den sozialen Medien. Seit Langem setzt sie sich gemeinsam mit dem Juden Shai Hoffmann für Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Beide sitzen nebeneinander.

eit dem 7. Oktober ist die Lage für ein Miteinander wie ihres, so wirkt es, fast aussichtslos. Auch in Deutschland. Shai Hoffmann sagt: „Ich empfinde einen Schmerz, und auch Jouanna empfindet Schmerz. Beides ist berechtigt. Das muss auch die Politik anerkennen.“

Ausgerechnet hier im Schloss wird offenbar, wie weit entfernt die politische Debatte in Deutschland von der Realität in Klassenzimmern und auf den Straßen ist.

Wie groß die Leerstelle scheint, die gerade der muslimische Teil der Bevölkerung bei der Anerkennung des eigenen Leids erkennt. Wie es vielleicht auch mancher Jude trotz der Solidaritätsworte für das eigene Leid verspürt.

Vergangene Woche etwa wurde Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) für eine Rede gelobt, in der er die Komplexität der Lage in Nahost – endlich einmal – auf den Punkt brachte.

Weder Bundeskanzler noch Bundespräsident hatten zuvor an prominenter Stelle Worte des Miteinanders an alle Deutschen gerichtet. Viele Muslime im Land hatten unterdessen immer stärker das Gefühl, zu Mitschuldigen erklärt zu werden; viele Juden haben Angst vor dem wachsenden Hass auf sie.

Habeck zumindest hatte sich nicht nur mahnend an die Muslime im Land gewandt, sondern auch mitfühlend gesprochen. Ein Satz der Verständigung.

An diesem Mittwoch sollte Bundespräsident Steinmeier sein Wort zurückfinden. Fast auf den Tag genau einen Monat nach dem grausamen Terrorangriff der Hamas auf Zivilisten in Israel und dem Beginn der israelischen Gegenangriffe auf Gaza wendete sich das deutsche Staatsoberhaupt vor Beginn des Runden Tisches an die arabischstämmigen Menschen im Land.

Steinmeier appelliert auch an die Muslime

Steinmeier verurteilt scharf den Antisemitismus, erklärt den Juden sein Mitgefühl, sagt aber auch: „Sie alle sollen Raum haben, um Ihren Schmerz und Ihre Verzweiflung über die zivilen Opfer in Gaza zu zeigen, mit anderen zu teilen.“

Dann folgt ein Appell, von dem offen ist, ob er nicht längst zu spät kommt: „Ich bitte Sie, die Menschen mit palästinensischen und arabischen Wurzeln in Deutschland: Lassen Sie sich von den Helfershelfern der Hamas nicht instrumentalisieren!“ Steinmeier spricht die „innere Zerrissenheit“ von Juden und Muslimen an, äußert Verständis für die Furch um Angehörige. Es ist ein neuer Ton, er passt.

Derviş Hızarcı sitzt neben Margot Friedländer an diesem Tisch, begleitet sie zu Beginn des Gesprächs zu ihrem Stuhl. Am Haus seiner Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus haben sie das Schild abnehmen müssen, die genau Adresse aus dem Internet entfernt.

Hizarci warnt: „Es gibt eine Tendenz der Polarisierung. Die bestärkt wird von der Politik. Es wird immer schwieriger, zusammenkommen.“

Diese Runde bietet eine seltene Gelegenheit

Er selbst habe zu einem Fest des Vereins einladen wollen. „Was schreib’ ich in die Einladung, habe ich mich gefragt? Es war noch nie so schwer, die richtigen Worte zu finden“, sagt Hızarcı. „Ich habe auch ihnen mit großen Ohren zugehört, ob sie alles richtig gemacht haben, Herr Steinmeier.”

Es ist ein Gefühl des Misstrauens und der Angst vor dem falschen Wort, das sich in die öffentliche Rede eingeschlichen hat. Hızarcı benennt es, ohne jedes falsche Wort.

Der Zentralrat der Muslime sitzt nicht mit an diesem Tisch, dem – ob nun richtig oder nicht – Verharmlosung des Terrors der Hamas zur Last gelegt wird, auch andere Islam-Verbände ließ man lieber aus.

Im Bundespräsidialamt hatte man zu diesem Termin bewusst Menschen eingeladen, die frei sind von jedem Verdacht. Die sich einsetzen fürs Miteinander. So entsteht eine seltene Gelegenheit in diesen Tagen: eine empathische Runde, deren Weltschmerz sich nicht in Hass wendet.

Es kommt einem fast tragisch vor, dass das Gespräch nicht live ins Fernsehen übertragen wird – oder auf Tiktok und in Bundestagsbüros. Steinmeier jedenfalls hat schon weitere Gespräche versprochen.

Imam Ender Cetin sitzt gemeinsam mit dem Rabbiner Elias Dray am Tisch. Der Imam erinnert an den Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001. Damals sei er in Deutschland vom Migranten zum Muslim geworden, zum Feindbild.

Neben ihm nickt Rabbiner Dray. Cetin sagt: „Wenn ich sehe, was da jetzt für Wut ist bei den Palästinensern, dann erinnert mich das an diese Zeit 2001.“

Durch die Nähe, die Fotos und Videos auf jedem Kinderhandy sei es eigentlich noch viel gefährlicher. Am Tisch sitzt auch Margot Friedländer.

Konzentriert und ruhig hört die 102-Jährige zu, hier an diesem Tisch im Schluss Bellevue, mit Muslimen und Juden.

Was war, das war“, hatte sie eingangs gesagt, „aber es darf nie wieder geschehen.“