Migration: Bund soll zahlen, weil er die Zuwanderung nicht begrenzt – Kreise und Kommunen machen Druck

Artikel von Delhaes, Daniel Neuerer, Dietmar Handelsplatt

 

 

Vor dem Migrationsgipfel erhöhen Kommunen und Landkreise den Druck auf Bund und Länder. Sie sollen die Flüchtlingskosten übernehmen – und zwar komplett.

Auf dem Flüchtlingsgipfel am Montag wollen Bund und Länder ein großes Migrationspaket schnüren. Ein zentraler Streitpunkt dabei: die Verteilung der Flüchtlingskosten. Städte, Gemeinden und Landkreise fordern Bund und Länder nun auf, in Zukunft für die gesamten Flüchtlingskosten aufzukommen. 

„Wir erwarten, dass Bund und Länder die Kosten für Unterbringung, Verpflegung und Integration der nach Deutschland geflüchteten Menschen vollständig übernehmen“, sagte Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, dem Handelsblatt.

Die gleiche Forderung erhebt Landkreistags-Präsident Reinhard Sager: „Der Bund ist verantwortlich für fehlende Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung und damit die erheblich steigenden Kosten auf kommunaler Ebene“, sagte Sager dem Handelsblatt.  „Bund und Länder müssen diese Kosten übernehmen“, forderte Sager.

Städte und Gemeinden erwarten beim Spitzentreffen von Bund und Ländern „eine entsprechende Zusage an die Kommunen“, wie es Verbandsvertreter Landsberg formulierte.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer wollen an diesem Montag beraten, wer künftig welche Kosten für Flüchtlinge und Asylbewerber übernimmt und weitere Verschärfungen im Asylrecht beschließen. Bestenfalls wollen beide Seiten die Grundlagen für einen „Deutschlandpakt“ zur Migration beschließen. Eine Einigung ist aber noch nicht in Sicht. Die Finanzen gelten als das heikelste Thema bei dem Treffen.

Auch Ministerpräsidenten der SPD und Linken fordern mehr Geld vom Bund

Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gab es in diesem Jahr bis Ende September bereits mehr als eine viertel Million Anträge auf Asyl, so viele wie seit den Krisenjahren 2015 und 2016 nicht mehr.

Experten rechnen bis Ende des Jahres mit mehr als 300.000 Schutzsuchenden, nach 240.000 im vergangenen Jahr. Hinzu kommen 1,1 Millionen Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflohen sind.

„Wir haben die Belastungsgrenze erreicht“, sagte Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU), Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz. Die Länder warnen, dass derzeit bis zu 1000 Menschen pro Tag nach Deutschland illegal einreisen. Auch aus der SPD wächst der Druck auf Kanzler Scholz.

So bekräftigte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), dass die Länder mehr Geld vom Bund benötigen, um die Kommunen zu unterstützen. 

Die Ministerpräsidenten hätten sich im Oktober parteiübergreifend „auf ein sehr weitreichendes Maßnahmenpaket zur Regulierung und Finanzierung der Flüchtlingsbewegung in Deutschland konstruktiv und lösungsorientiert verständigt“, sagte Dreyer dem Handelsblatt.

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Ebenso wie die SPD-Politikerin fordert Bodo Ramelow, Ministerpräsident in Thüringen, eine Lösung. „Die kommunale Finanzsituation in Sachen Flüchtlingsunterbringung muss zügig und nachhaltig geklärt werden“, sagte der Linken-Politiker dem Handelsblatt. Wichtig sei „Verlässlichkeit“.

Die Länder haben bereits im Oktober auf einer eigenen Ministerpräsidentenkonferenz ihre Vorstellungen in der Migrationspolitik abgesteckt. Und sie wollen ihr Forderungen für den Flüchtlingsgipfel an diesem Montag im Kanzleramt als Verhandlungsgrundlage verstanden wissen.

Dazu gehört die Position, Rückführabkommen mit Drittstaaten zu schließen und bessere Kontrollen der EU-Außengrenzen zu schaffen. Auch soll der Bund eine Bezahlkarte für Asylbewerber einführen. Die Emissäre von Bund und Ländern hatten am Freitag beraten, um das Treffen am Montag vorzubereiten.

Ohne Beschlüsse im Bundestag und auf europäischer Ebene könne es den von Kanzler Scholz in Aussicht gestellten „Deutschlandpakt“ nicht geben, hieß es aufseiten der Länder. Deshalb fordern sie etwa auch, das europäische Asylverfahren (Dublin-Verfahren) wieder anzuwenden. Danach wird jeder Schutzsuchende in dem Land betreut, in dem er erstmals registriert wird.

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Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sind 60.000 der in Deutschland in diesem Jahr registrierten Asylsuchenden zuvor in einem anderen EU-Staat registriert worden. Zwar haben die jeweilig zuständigen EU-Staaten in mehr als 43.000 Fällen dem Übernahmeersuchen des BAMF zugestimmt. Zurücküberstellt wurden indes weniger als 4000.

Kanzler hofft auf einen parteiübergreifenden Konsens

Bundeskanzler Scholz hofft für seinen Deutschlandpakt auf einen parteiübergreifenden Konsens und hatte dazu am Freitag erneut den Oppositionsführer Friedrich Merz zu einem weiteren Gespräch ins Kanzleramt eingeladen.

Merz wurde vom Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, begleitet. Aus dem Umfeld von CDU-Chef Merz hieß es im Anschluss, es habe „einen intensiven Austausch um eine breite Palette von Migrationsthemen“ gegeben. Das Gespräch sei aber „nicht abschließend“ gewesen.

So soll auch der Druck auf die Grünen steigen, einer Lösung zuzustimmen und eine ganz große Koalition der demokratischen Mitte hinter einer gemeinsamen Migrationspolitik versammeln. 

Merz steckt dabei in einem Dilemma. Auch er hat Scholz einen Forderungskatalog übermittelt, auf den sich das Kanzleramt aber nicht einlassen will. Lässt sich Merz dennoch aus staatspolitischer Verantwortung auf eine Einigung ein, könnte er die Ampel nicht mehr so für ihre Flüchtlingspolitik kritisieren.

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Das Verhältnis zwischen Merz und der SPD ist jedenfalls kein einfaches. Das Bundeskabinett hatte zuletzt beschlossen,  abgelehnte Schutzsuchende schneller in ihre Heimat zurückzubringen und es anderen Asylbewerbern zu ermöglichen, leichter arbeiten zu können. Der Bundestag muss die Pläne noch beraten und abstimmen. Merz hatte daraufhin von nur „kleine Retuschen“ am bestehenden Recht gesprochen.

Dreyer erklärte dazu: „Die Kritik von Friedrich Merz läuft für mich ins Leere, sie ist nicht lösungsorie 

lösungsorientiert, sondern offensichtlich parteitaktisch. „Das ist der Lage nicht angemessen.“

Angesichts der wachsenden Zahl von Schutzsuchenden bleiben aber die Kosten und die Belastung der Kommunen Knackpunkt beim Treffen mit den Ministerpräsidenten an diesem Montag.

Länder fordern vom Bund sechs Milliarden Euro extra

Die Kommunen rechnen für dieses Jahr mit Kosten in Höhe von 5,7 Milliarden Euro für 2023, wie die Statistiker der Länder ermittelt haben. Weitere 17,6 Milliarden Euro müssen demnach die Länder tragen, zusammen tragen Länder und Kommunen also Kosten von 23,3 Milliarden Euro.

Hinter der abstrakten Zahl verbergen sich Aufgaben wie Flüchtlinge und Asylbewerber aufzunehmen und unterzubringen, Kinder und Jugendliche in Kitas und Schulen zu betreuen sowie in besonderer Weise jene Minderjährige, die ohne ihre Eltern angekommen sind. Auch die Kosten für die Justiz berechnen die Länderstatistiker ein.

Der Bund unterstützt die Länder in diesem Jahr mit 3,75 Milliarden Euro und will ab 2024 nur noch 1,25 Milliarden beitragen. Er verweist darauf, etwa das Bürgergeld für die Ukraineflüchtlinge zu zahlen.

Den Ländern reicht dies bei Weitem nicht. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, etwa hatte im Handelsblatt gefordert, der Bundeskanzler müsse „jetzt handeln und notfalls seinen Finanzminister per Richtlinienkompetenz anweisen, ein Pro-Kopf-Abrechnungssystem zu ermöglichen, das zu einer echten Unterstützung der Anstrengungen von Ländern und Kommunen führt“.

Konkret fordern die Ministerpräsidenten vom Bund gut sechs Milliarden Euro für ein sogenanntes Drei Säulen-Modell:1,25 Milliarden Euro für eine Pauschale für die Integration unbegleiteter Minderjähriger. Von ihnen gab es Stand Ende 2022 nach Angaben des Bundes fast 30.000.

3,4 Milliarden Euro (gemessen an der derzeitigen Zuwanderung) für eine Pro-Kopf-Pauschale von mindestens 10.500 Euro.

1,4 Milliarden Euro, um die gesamten Kosten der Unterkunft zu übernehmen.Wie hoch der finanzielle Aufwand konkret ist, um einen Flüchtling oder Asylbewerber zu versorgen, vermögen die Städte und Gemeinden nicht pauschal zu sagen. Klar ist: Am aufwendigsten und damit teuersten ist es, unbegleitete Minderjährige zu versorgen.

Laut Städte- und Gemeindebund sind etwa für einen neuen Kita-Platz Investitionen um die 35.000 Euro nötig; die jährlichen Betriebskosten lägen bei 15.000 Euro. Einen Flüchtling in einer Gemeinschaftsunterkunft unterzubringen, koste „rund 4000 bis 6000 Euro pro Monat“.

Entsprechend fordert Hauptgeschäftsführer Landsberg, „langfristige finanzielle Planungssicherheit“. Schließlich würden Investitionsentscheidungen wie der Bau einer neuen Unterkunft „jetzt getroffen, wirken sich aber in den Haushalten der Folgejahre aus“.

Die Bundesregierung betont, dass sie keinerlei  finanzielle Reserven mehr hat und lehnt die Forderungen der Länder ab. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bietet ihnen lediglich eine Pauschale von 5000 Euro je Flüchtling. 

Allerdings könnte es zu einer Kompensation kommen. So hatte Lindner gefordert, die Sozialleistungen für Asylbewerber zu reduzieren. Zudem wird über Änderungen bei der Versorgung ukrainischer Flüchtlinge diskutiert.

Ukrainische Flüchtlinge erhalten keine Leistungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz, sondern bekommen Bürgergeld. Statt 410 Euro  erhalten sie so 502 Euro im Monat und dürfen von Anfang an in einer Wohnung statt in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnen.

Am Freitag hatte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) erklärt, neu ankommende ukrainische Kriegsflüchtlinge sollten  Leistungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, anstatt Bürgergeld zu beziehen, weil offenbar die Arbeitsanreize zu gering seien.

Bislang haben etwa 19 Prozent der nach Deutschland geflüchteten erwerbsfähigen Ukrainer einen sozialversicherungspflichtigen Job – in anderen europäischen Ländern ist die Quote teils deutlich höher. Wenn ukrainische Flüchtlinge nicht mehr über das Bürgergeld unterstützt würden, würde dies auch den Bundeshaushalt entlasten, sodass wieder Mittel frei wären, um Ländern und Kommunen zu helfen. 

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