Alles, was Sie zur Wahl in der Türkei wissen müssen
Von Die Welt Artikel von Maren Osterloh
Erdogan ist seit 20 Jahren in der Türkei an der Macht – doch bei der anstehenden Wahl könnte er tatsächlich verlieren. Zahlreiche Umfragen sehen bei der Präsidentenwahl am Sonntag den Oppositionschef vorn. Wer gewinnt, darüber dürfen auch Zehntausende Türken in Deutschland mitentscheiden.
Wie läuft die Wahl ab und wer steht zur Wahl?
Nach 20 Jahren unter der Präsidentschaft von Tayyip Erdogan steht die Türkei am Scheideweg. Bei der Wahl am Sonntag muss der 69-Jährige erstmals um seinen Machterhalt bangen. Erdogan und sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, Chef der oppositionellen Volkspartei CHP, liefern sich in den Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Für die Türkei geht es dabei nicht nur um die Frage, wer an der Spitze des Staates steht – die rund 64 Millionen Wahlberechtigten müssen auch grundsätzlich darüber entscheiden, in welchem politischen System sie in Zukunft leben wollen. Während Erdogan wohl an seinem autoritären Führungsstil festhält, hat Kilicdaroglu einen demokratischen Neuanfang angekündigt.
In den Umfragen hat sich der 74-jährige Kilicdaroglu zuletzt einen leichten Vorsprung verschaffen können. Vor allem seit den verheerenden Erdbeben vom 6. Februar hat er hinzugewonnen. Offen ist allerdings, ob es schon im ersten Wahlgang eine Entscheidung gibt: Wenn keiner der beiden Kandidaten die absolute Mehrheit gewinnt, ist am 28. Mai eine Stichwahl fällig. Neben Erdogan und Kilicdaroglu tritt ein weiterer Oppositionskandidat zur Wahl an; er liegt in Umfragen jedoch weit abgeschlagen.
Kurz vor der ersten Runde ist zudem der Politiker Muharrem Ince aus dem Rennen ausgestiegen. „Ich ziehe meine Kandidatur zurück“, sagte der Vorsitzende der Partei Memleket (Vaterland). In den Umfragen hatte Ince, ein erklärter Gegner des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, nur bei zwei bis vier Prozent der Stimmen gelegen.
Auch das Parlament wird am Sonntag neu gewählt. Das Oppositionsbündnis, zu dem unter anderem die CHP von Kilicdaroglu, die Mitte-Rechts-Partei IYI, die islamistische SP und die Demokratische Partei gehört, liegt in den meisten Umfragen wenige Punkte vor dem Regierungsbündnis aus Erdogans AKP, der nationalistischen MHP, der rechten BBP und der islamistischen YRP. Allerdings ist der Vorsprung gering, keines der Bündnisse kommt auf eine absolute Mehrheit. Die Kurdenpartei HDP hat sich mit mehreren weiteren Parteien zu einem dritten Bündnis zusammengeschlossen. Sie kommt in den Erhebungen auf rund zwölf Prozent der Stimmen und könnte dabei vor allem bei einem unentschiedenen Ausgang zum Zünglein an der Waage werden.
Bilod Arshw
Bild Arschw CHP Kilicdaroglu
Aktuellste Umfrage
PIAR, 11. Mai
Kemal Kılıçdaroğlu: 51,3 Prozent
Recep Tayyip Erdoğan: 45,3 Prozent
Was ist das Hauptthema der Wähler?
Erdogan hat sich in den vergangenen Jahren zum mächtigsten Staatschef der modernen Türkei seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk aufgeschwungen. Er ist auch der am längsten regierende Staatschef des Landes. Doch ausgerechnet in dem Jahr, in dem sich die Gründung der türkischen Republik zum hundertsten Mal jährt, sinkt Erdogans Popularität. Sie leidet insbesondere unter der hohen Inflation, die die Lebenshaltungskosten für viele Türken massiv verteuert.
Zwar hat die Teuerungsrate seit ihrem Höhepunkt vom Oktober wieder nachgegeben, sie liegt aber immer noch bei fast 44 Prozent – und besonders hoch fällt die Teuerung bei Lebensmitteln aus. „Wir konnten drei oder vier Taschen mit Lebensmitteln für 150 bis 200 Lira kaufen“, erzählt Hakim Ekinci, Barbier aus Istanbul. Jetzt bekomme er gerade einmal zwei Tüten dafür. „Ich würde sagen, dass die dafür verantwortlich sind, die uns regieren. Ich denke, dass die falschen Entscheidungen getroffen wurden. Ich habe in der Vergangenheit die AKP unterstützt, aber ich denke jetzt nicht mehr daran, sie zu wählen.“
Bei jüngeren Wählern spielen zudem Menschenrechte eine immer wichtigere Rolle. Den mehr als sechs Millionen Erstwählern könnte damit eine Schlüsselrolle zukommen, sagte Erman Bakirci vom Wahlforschungsinstitut Konda Arastirma. „Sie sehen über das Internet und soziale Netzwerke, was ihre Altersgenossen in Europa machen und welche Möglichkeiten sie haben“, sagte Bakirci. „Sie sehen, dass sich der Abstand vergrößert hat. Ihnen fehlt es an sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Sicherheit. Sie wollen das hinter sich lassen.“
Was versprechen die Kandidaten?
Im Wahlkampf selbst feierte Erdogan seine jüngsten Errungenschaften – das erste türkische Elektroauto etwa, die erste Gasförderung im Schwarzen Meer und die Inbetriebnahme des ersten Atomkraftwerks. Er wetterte gegen Homosexuelle und warf dem Oppositionskandidaten Nähe zur verboten kurdischen Arbeiterpartei PKK vor. Experten rechnen damit, dass er bei einem Wahlsieg an seinem autoritären Kurs festhält.
Kilicdaroglu, Präsidentschaftskandidat des Oppositionsbündnisses Nationale Allianz, stellt dagegen demokratische Reformen und Menschenrechte in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes. Seinem 100-Tages-Programm zufolge will er das Land wieder zu einer parlamentarischen Demokratie machen, die Befugnisse des Präsidenten drastisch beschneiden, die Unabhängigkeit der Justiz sichern, den Einfluss des Staats auf die Zentralbank beschränken und Friedenssicherung zum zentralen Bestandteil der Außenpolitik machen.
Damit will er einen Großteil der Politik Erdogans revidieren, der seit seinem Amtsantritt 2003 die Macht zunehmend in der Hand des Präsidenten konzentriert hat, der von seinem 1000 Zimmer großen Präsidentenpalast im Zentrum Ankaras aus das Land regiert. „Wir kommen zurück, um die Rechte der Armen, der Unterdrückten und der Arbeiter zu schützen“, sagte Kilicdaroglu.
Wie verhalten sich die Türken in Deutschland?
Bis zum 9. Mai waren 1,5 Millionen Türken in Deutschland dazu aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Bei den vergangenen Wahlen vor fünf Jahren hatte es Streit um Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland gegeben. Inzwischen sind solche Auftritte ausländischer Politiker drei Monate vor den Abstimmungen in ihren Ländern nicht mehr erlaubt.
Bundesagrarminister Cem Özdemir sieht bei der bevorstehenden Türkei-Wahl die Möglichkeit einer Wende in der türkischen Politik. Ein Sieg des Oppositionskandidaten Kilicdaroglu „würde den Weg für eine Rückkehr zur Demokratie ebnen“, sagte der Grünen-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Der Ausgang der Wahlen sei „so offen wie nie“ in Erdogans rund 20-jähriger Amtszeit als Regierungschef.
Der deutsch-türkische Abgeordnete der Opposition und ehemalige Erdogan-Vertraute Mustafa Yeneroglu appellierte unterdessen an türkische Wähler, in Deutschland für Rechtsstaat und Demokratie in der Türkei zu stimmen.
In den ersten zwei Legislaturperioden Erdogans hat die Türkei nach Ansicht Yeneroglus große Fortschritte gemacht, vor allem in Bezug auf die Wirtschaft und demokratische Standards. „Aber insbesondere in den letzten Jahren hat die Türkei sämtliche Entwicklungen, die im ersten Jahrzehnt des Jahrtausends gemacht wurden, komplett zurückgedreht“, sagte Yeneroglu der Deutschen Presse-Agentur. Es tue ihm weh und mache ihn «extrem traurig», dass das nicht bei den türkischen Wählern in Deutschland ankomme.
Bei den vergangenen Wahlen 2018 hatte etwa die Hälfte der stimmberechtigten Türken in Deutschland ihr Wahlrecht genutzt. Dabei stimmten rund 65 Prozent für Erdogan. Er
schnitt damit in der Bundesrepublik deutlich besser ab als im Gesamtergebnis (rund 53 Prozent)