Die Folgen des Bebens - Erdogan ist wie ausgetauscht - dahinter steckt ein strategisches Ziel

Artikel von Von FOCUS-online-Gastautor Ronald Meinardus •

Freundliche Töne in Richtung Athen, die Zustimmung zum Nato-Beitritt Finnlands und keine antiwestlichen Tiraden mehr: Erdogans plötzliche Wandlung überrascht - und verfolgt ein klares strategisches Ziel.

In seiner langen Karriere als Politiker hat Recep Tayyip Erdogan viele Wandlungen vollzogen. In den frühen Jahren seiner Regentschaft feierten westliche Regierungen den Türken als muslimischen Hoffnungsträger, der es verstand, Islam und Demokratie zusammenzuführen.

Später dann wuchsen Distanz und Ablehnung: Erdogans Tiraden gegen den Westen, die autokratische Politik im Inland und die aggressiven Eskapaden jenseits der Grenzen führten dazu, dass die einstige Lichtgestalt zum politischen Schmuddelkind für den Westen degenerierte.

Wir erleben einen anderen, man mag sagen: geläuterten türkischen Präsidenten

Präsidenten

Erdogans Wandlungen verfolgten stets dasselbe strategische Ziel: Die Kurskorrekturen dienten dazu, seine Macht zu verteidigen und, wo möglich, zu mehren. In diesen Tagen erleben wir – einmal mehr – einen anderen, man mag sagen: geläuterten türkischen Präsidenten.

Für viele überraschend ist die nur als radikal zu bezeichnende Wende in Erdogans Politik gegenüber dem Nachbarn Griechenland. Noch vor wenigen Wochen verging kaum ein Tag ohne giftige Drohungen des Präsidenten. Die türkische Luftwaffe begleitete die kriegerische Rhetorik mit Verletzungen des Luftraums über griechischen Inseln im Ägäischen Meer.

Politische Beobachter sprachen von einer neuen Eiszeit in den bilateralen Beziehungen. In Washington und anderen westlichen Hauptstädten ging die Sorge um, ein militärischer Zwischenfall könne in eine kriegerische Auseinandersetzung der verfeindeten Bündnispartner eskalieren.

Erdogans Sinneswandel ist in erster Linie eine Folge des Erdbebens

All dies ist inzwischen Vergangenheit. Inzwischen vergeht kaum ein Tag, ohne dass positive Botschaften aus Ankara in Athen eingehen. Den bisherigen Höhepunkt erreichten die demonstrativen Freundlichkeiten am 25. März: Erdogan wählte ausgerechnet – und durchaus symbolträchtig – den Tag, an dem die Griechen kollektiv den Beginn ihres Unabhängigkeitskampfes gegen die Osmanen-Herrschaft feiern für seine Glückwunsch-Post an das Nachbarvolk: „Ich bin überzeugt, dass die Beziehungen und die Zusammenarbeit unserer beiden Länder sich mit unseren gemeinsamen Bemühungen in Zukunft weiterentwickeln werden“, stand in der Botschaft an Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis.

Das klingt zunächst nicht außergewöhnlich. Ist es aber doch, wenn man bedenkt, dass der türkische Präsident den Griechen vor wenigen Monaten zur „persona non grata“ erklärt hatte, mit der er nichts mehr zu tun haben wollte.

Erdogans Sinneswandel ist in erster Linie eine Folge des Erdbebens, das Anfang Februar den Südosten Anatoliens erschütterte: Historiker der Zukunft werden die türkische Politik in eine Zeit vor dem 6. Februar und eine Zeit nach dem Erdbeben aufteilen. In der Außenpolitik ist die Differenzierung bereits erkennbar. Ob dies auch für die Innenpolitik gilt, wird der Ausgang der türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom 14. Mai zeigen.

Erdogans nationalistische Propaganda von der auswärtigen Bedrohung wurde widerlegt

Das Erdbeben steht am Beginn einer neuen Phase der Entspannung in den griechisch-türkischen Beziehungen. Die Voraussetzung hierfür schuf in erster Linie die griechische Seite. Vom ersten Moment nach der Katastrophe stand Athen dem Nachbarland zur Seite. Die Anteilnahme und die Solidarität gingen weit über die offizielle Ebene hinaus. Das sollte nicht ohne Auswirkungen auf den politischen Prozess bleiben.

Die Fernsehbilder von der Schufterei der griechischen Bergungsmannschaften in den Trümmern Ostanatoliens widerlegten das verbreitete, offiziell geförderte Narrativ vom feindseligen Nachbarn. Die Bilder in den Massenmedien schufen die gesellschaftliche Grundlage für den diplomatischen Neubeginn; sie widerlegten die nationalistische Propaganda von der auswärtigen Bedrohung, die Erdogan immer wieder bemühte, um die Massen vor den Wahlen zu mobilisieren.

Kaum war die Erde zur Ruhe gekommen, reiste der griechische Außenminister Nikos Dendias ins

Neubeginn; sie widerlegten die nationalistische Propaganda von der auswärtigen Bedrohung, die Erdogan immer wieder bemühte, um die Massen vor den Wahlen zu mobilisieren.

Kaum war die Erde zur Ruhe gekommen, reiste der griechische Außenminister Nikos Dendias ins Katastrophengebiet. Der Schulterschluss mit seinem türkischen Amtskollegen im Windschatten der Ruinen bereitete den Weg für die Verhandlungen der stellvertretenden Außenminister in Ankara über eine „positive Agenda“ in nicht weniger als 25 Politikfeldern. In einem nächsten wird der griechische Verteidigungsministers Anfang April in offizieller Mission in die Türkei reisen. Die bilaterale Diplomatie legt ein rasantes Tempo vor.

Gute Beziehungen zwischen Athen und Ankara stärken die Nato

Es ist mehr als eine Fußnote wert, dass der griechisch-türkische Kommunikationskanal bereits vor dem schweren Erdbeben geöffnet wurde. Auf Vermittlung Deutschlands trafen führende Diplomaten Griechenlands und der Türkei vor Weihnachten in Brüssel zusammen und vereinbarten – in großer Geheimhaltung –, dass sie ihre Gespräche fortsetzen wollen. Das folgende Erdbeben hat dem Prozess eine neue Dynamik verliehen.

Entscheidend ist, die Annäherung wird mit Nachdruck von den westlichen Regierungen gefördert. Das hat auch mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. Der Westen verfolgt das Ziel, geschlossen gegen den Aggressor Russland aufzutreten. Ein Zerwürfnis in der Allianz ist eine Schwachstelle. Gute Beziehungen zwischen Athen und Ankara stärken die Nato.

Das große Erdbeben hat die strategische Gleichung insofern verändert, als Ankara für den Wiederaufbau auf gewaltige Finanzhilfe aus dem Ausland angewiesen ist. Das meiste Geld – das zeigen die ersten Wochen nach dem Beben – kommt nicht aus Russland, China oder von Erdogans Freunden in Katar, sondern aus der EU und dem Westen. Die Not zwingt den türkischen Präsidenten, seine beschädigten Beziehungen zum Westen zu reparieren.

„Erdogan hat Kreide gefressen“, erklärt ein westlicher Diplomat

Als erste Maßnahme hat Erdogan seine antiwestliche Rhetorik, bislang ein Markenzeichen seiner Reden, gemäßigt. „Erdogan hat Kreide gefressen“, erklärt ein westlicher Diplomat den Wandel. Nicht allein die Sprache hat sich geändert. An mehreren Fronten folgten Taten, die den neuen Kurs belegen: Die Zustimmung zum Nato-Beitritt Finnlands ist nur ein erster Schritt. Es gilt nur als eine Frage der Zeit, bis Ankara die Mitgliedschaft auch Schwedens ratifiziert.

Westliche Diplomaten berichten, Ankara habe den USA und der EU zugesichert, dass keine Waren mehr aus der Türkei nach Russland gelangen, die unter die Sanktionen fallen. Ein weiteres Zugeständnis an den Westen betrifft das russische Raketensystem S 400, das wie kaum ein anderes Thema die Beziehungen zwischen Ankara und Washington vergiftet. Es mehren sich in letzter Zeit Aussagen von türkischer Seite, Ankara benötige das russische System nicht länger, da es eigene – vermeintlich bessere – Systeme in eigener Produktion entwickle.

In griechischen Diskussionen überwiegt in diesen Tagen die Skepsis

Ankaras „Botschaften der Freundschaft“ an den Nachbarn Griechenland, der Athener TV-Sender SKAI spricht von einem „diplomatischen Pressing“, müssen in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Sie sind Teil einer Kampagne, die zum Ziel hat, die beschädigten Beziehungen zum Westen zu reparieren. 

In griechischen Diskussionen überwiegt in diesen Tagen die Skepsis, der Zweifel über die Dauerhaftigkeit des freundlichen Klimas. Tatsächlich weiß niemand, was in der Zukunft passieren wird. Sicher ist: Der Westen wird seinen Druck aufrechterhalten, damit Stabilität und Frieden im östlichen Mittelmeer – und damit die Entspannung zwischen Griechenland und der Türkei – Bestand haben.

Es klingt zynisch, aber es ist eine Realität: Das „Erdbeben des Jahrhunderts“ hat hierfür die politische Grundlage geschaffen.