„Sozialer Frieden gefährdet“: Grüne Realos fordern radikale Umkehr in der Migrationspolitik
Dutzende Grünen-Politiker bezeichnen die Flüchtlingspolitik als verfehlt. Sie fordern einen Kurswechsel. Die FDP will mit den „Vert Realos“ Gespräche führen.
Mitten im heftigen innenpolitischen Streit um den Umgang mit Geflüchteten und Kontroversen innerhalb der EU um die europäische Migrationspolitik spricht sich eine Gruppe Grüner für scharfe Reformen aus. Die neu formierte Gruppe innerhalb der Regierungspartei nennt sich „Vert Realos – Die bürgerliche grüne Mitte“, eines der prominentesten Mitglieder ist der umstrittene Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer.
Die Vorschläge stellen in vielen Punkten eine Abkehr von jahrzehntelang gepflegten Positionen der Grünen dar und dürften innerhalb der Partei auf heftigen Widerstand stoßen. Zunächst hatte der „Spiegel“ darüber berichtet.
Unterzeichnet haben das siebenseitige „Memorandum für eine andere Migrationspolitik in Deutschland“ mehr als 70 Politikerinnen und Politiker, darunter der bayerische Landrat Jens Marco Scherf und Rebecca Harms, einst Fraktionsvorsitzende im EU-Parlament, sowie Uschi Eid, die frühere persönliche Afrikabeauftragte des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD).
Es wird nicht reichen, einen weiteren (folgenlosen) Flüchtlingsgipfel einzuberufen.
Die Gruppe „Vert Realos“ in ihrem Memorandum
Es fehle ein „Konzept für eine gelungene Integration oder die konsequente Rückführung von Geflüchteten in ihre Heimat, sobald sich dies verantworten lässt oder sie selbst es wollen“, schreiben die Verfasser. Es bedürfe eines Einwanderungsgesetzes für Wirtschaftsmigranten, aber auch „verpflichtender Aufenthaltszonen“ für Geflüchtete sowohl an den Grenzen als auch außerhalb der Europäischen Union.
Asylbewerber ohne Papiere müssten zurückgewiesen werden oder „bis zur Klärung ihrer Identität in einer staatlichen Aufnahmeeinrichtung verbleiben“. Ein Aufenthaltsrecht setze voraus, dass Geflüchtete sich „in die gesellschaftliche Ordnung“ einfügten und Grundwerte wie religiöse Toleranz akzeptierten.
„Vert Realos“ betont, die Diskussion dürfe nicht nur auf Deutschland bezogen geführt werden, sondern müsse den europäischen Kontext und die verschiedenen Gegebenheiten in anderen europäischen Staaten berücksichtigen. „Vert“ heißt im Französischen „Grün“.
Die Gruppe fordert, dass die Migration in die EU und nach Deutschland so organisiert wird, „dass sie für die Menschen, die kommen, aber auch für die Menschen, die hier leben, akzeptabel und tragbar
Die Akzeptanz für Einwanderung sinke in Deutschland, betonen die Verfasser des Memorandums. Dieser Zustand gefährde auf Dauer den Zusammenhalt und den sozialen Frieden. Durch die „bisher verfehlte Migrationspolitik“ und die Weigerung, Fehlentwicklungen offen zu debattieren, werde der „rechte Rand der Gesellschaft und der Parteien“ gestärkt.
Die Gruppe „Vert Realos“ geht offenbar selbst davon aus, dass ihre Vorschläge auf heftigen Widerstand stoßen werden. Sie sehen das Papier dem Bericht zufolge als „Beitrag zur Diskussion“ in der Partei, damit die „Migrationspolitik in Deutschland an die tatsächlichen Erfordernisse angepasst wird“.
FDP schlägt Grünen-Realos Gespräche über neue Migrationspolitik vor
FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai begrüßte die Forderungen nach einem neuen Kurs in der Migrationspolitik. Er schlug vor, sich zusammenzusetzen und über einen neuen Kurs in der Migrations- und Integrationspolitik zu sprechen, wie Djir-Sarai der Deutschen Presse-Agentur in Berlin zu der Initiative sagte.
„Wir brauchen dringend in Deutschland eine Migrations- und Integrationspolitik, die im Einklang mit der Realität ist, im Interesse unseres Landes ist und die Sorgen der Bürger nicht ignoriert“, forderte Djir-Sarai. Und: „Die katastrophalen Fehler der Merkel-Jahre dürfen sich nicht wiederholen.“
Der Präsident des Landkreistages, Reinhard Sager (CDU), warnte am Samstag vor deutlich steigenden Flüchtlingszahlen in diesem Jahr. „Im Januar kamen rund 30.000 Flüchtlinge aus Drittstaaten zu uns. Wenn es so weitergeht, werden wir in diesem Jahr deutlich über dem Wert von 2022 liegen“, sagte er der „Bild“. Im vergangenen Jahr waren dem Blatt zufolge rund 220.000 Flüchtlinge aus Drittstaaten nach Deutschland gekommen.
Sager kritisierte, er verstehe nicht, warum die Hilferufe der Kommunen im Kanzleramt bislang verhallten. Er forderte neben einem Flüchtlingsgipfel mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) „ein ganzes Bündel an Maßnahmen“.
Scholz müsse das Thema „zur Chefsache machen. Sonst droht den Kommunen der Kollaps“, sagte Sager. Die Bundesregierung agiere bisher zu zögerlich und müsse sich unter anderem stärker dafür einsetzen, die EU-Außengrenzen zu schützen.
Die aktuelle Situation birgt enormen sozialen Sprengstoff. Die Menschen fangen an, am Rechtsstaat zu zweifeln.
Reinhard Sager, Präsident des Landkreistages
Wie die Grünen-Gruppe warnte auch der Verbandschef vor sozialen Unruhen. „Die aktuelle Situation birgt enormen sozialen Sprengstoff. Die Menschen fangen an, am Rechtsstaat zu zweifeln“, sagte Sager. „Wir sehen ja schon, wie einzelne rechte Gruppen die Lage missbrauchen und ausschlachten wollen. Das darf auf keinen Fall passieren.“
DIW-Chef Fratzscher warnt vor starkem Zulauf für die AfD
Ähnlich äußerte sich der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. „Wenn die Kommunen nicht sehr schnell deutlich besser ausgestattet werden, dann wird der Widerstand mancher in der Bevölkerung zunehmen und politisch der AfD wieder starken Zulauf bringen“, sagte er dem „Handelsblatt“. „Das Resultat wäre eine gescheiterte Integration und eine noch stärkere Zunahme der sozialen Polarisierung in unserem Land.“
Die Politik müsse nun „dringend handeln und die Kommunen sowohl logistisch stärker unterstützen als auch finanziell besser ausstatten“, forderte der DIW-Chef. Er sieht indes vor allem die Länder in der Pflicht: „Der Bund hat immer wieder die größte Last geschultert.“ Jetzt müssten die Länder ihre Blockadehaltung aufgeben und sich finanziell stärker beteiligen.
Polizeigewerkschaft befürchtet, dass die Stimmung kippt
Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Heiko Teggatz, befürchtet ebenfalls einen Stimmungsumschwung. „Spätestens, wenn Sporthallen und Bürgerhäuser für die Unterbringung von Migranten genutzt werden müssen und dadurch das Vereinsleben in den Kommunen beeinträchtigt ist, werden meine Kolleginnen und Kollegen eine Menge zu tun bekommen“, sagte er dem „Handelsblatt“.
Einer am Freitag veröffentlichten Umfrage zufolge hält eine Mehrheit der Menschen in Deutschland die Situation hingegen aktuell für beherrschbar. Dem Politbarometer von ZDF und Tagesspiegel zufolge sind 57 Prozent der Meinung, dass Deutschland die Flüchtlingszahlen verkraften kann, 40 Prozent sind der gegenteiligen Auffassung.
Ein mit Spannung erwarteter Flüchtlingsgipfel von Bund, Ländern und Kommunen hatte am Donnerstag keine konkrete Einigung über die Verteilung finanzieller Lasten und Hilfen für die Städte und Gemeinde gebracht. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stellte in Berlin lediglich Ergebnisse nach weiteren Gesprächen bis Ostern in Aussicht. Vertreter von Städten und Gemeinden zeigten sich enttäuscht.
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Als Erfolg des Treffens wertete Faeser, dass es „erstmals“ gelungen sei, „feste Arbeitsstrukturen über alle Ebenen hinweg zu vereinbaren“. Hier sollten „bis Ostern auch konkrete Ergebnisse“ vorliegen. Konkret gehe es um vier Bereiche, sagte Faeser. Unterbringung und Finanzen, Entlastung der Ausländerbehörden und Verschlankung der Prozesse, bessere Integration auch in den Arbeitsmarkt sowie Begrenzung irregulärer Migration und Abschiebungen.
„Um Ostern“ herum solle es dann auch ein Spitzengespräch von Scholz mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder geben, um über die Finanzierungsfragen zu verhandeln, sagte Faeser. Sie betonte, der Bund stehe „Seite an Seite“ mit Kommunen und Ländern und habe für dieses Jahr bereits 2,75 Milliarden Euro zugesagt. „Wir schultern gemeinsam den großen humanitären Kraftakt.“ (mit dpa)