Bei der Migration ist die Union ein Phantom

Artikel von RP ONLIN

Wie können mehr abgelehnte Asylbewerber zurückgebracht werden? Soll die EU Milliarden für Grenzanlagen ausgeben? Erneut drehen sich Treffen von EU-Verantwortlichen um Fragen wie diese. Die gemeinsamen Antworten lassen weiter auf sich warten.

 

 

EU-Rückkehr-Koordinatorin Mari Juritsch (links) und EU-Innenkommissarin Ylva Johansson vor der Presse in Brüssel. © Virginia Mayo

 

 Migration kennt sich Europa seit gut anderthalb Jahrtausenden aus - seit die Goten nach Italien wanderten, die Franken nach Gallien, die Vandalen nach Nordafrika, die Angeln und Sachsen nach Britannien. Vieles, was heute als historische Quelle nationaler Identität gilt, hat seine Wurzeln außerhalb der jetzigen Grenzen. Und doch tut sich die Europäische Union immens schwer damit, als integrierende politische Einheit zu einer gemeinsamen Migrationspolitik zu finden.

Der Asyldruck von 2015 traf die EU weitgehend unvorbereitet. Fünf Jahre später legte die EU-Kommission ein umfassendes Reformpaket vor, das in sich schlüssig die illegale Migration in den Griff bekommen sollte. Zwei Jahre danach nahm der Druck erneut zu. Er wurde verstärkt durch den russischen Angriff auf die Ukraine, speiste sich aber erneut auch aus zunehmenden Flüchtlingszahlen über das Mittelmeer und die Balkanroute. Ende November trafen sich die EU-Innenminister zu einer Sondersitzung, die die Entschlossenheit zum gemeinsamen Handeln unterstreichen sollte. Heraus kam – nichts.

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Und auch das informelle Treffen an diesem Donnerstag in Stockholm war schon im Vorfeld mit einer herabgestuften Erwartung verbunden worden: Keine Beschlüsse. So richten sich die Blicke nun auf die Staats- und Regierungschefs, die übernächste Woche in Brüssel zu einem Migrations-Sondergipfel zusammentreten wollen. Vorsorglich hat jedoch die schwedische Ratspräsidentschaft schon einmal darauf hingewiesen, dass der Fahrplan zur Einigung bei der Migration Bestand habe. Danach will man sich bis Frühjahr 2024 in allen Punkten verständigt haben. Somit steht es schlecht für einen Durchbruch ein Jahr früher.

Dabei liegen alle Lösungen auf dem Tisch: Alle Ankömmlinge an den Außengrenzen binnen fünf Tagen „screenen“, also Identität, Gesundheit und Herkunft klären, die Asylberechtigung von Menschen aus vergleichsweise sicheren Ländern beschleunigt prüfen, unberechtigt Eingereiste in Kooperation mit den Ursprungsländern zügig zurückbringen, die Wege der Migranten durch Datenaustausch für alle EU-Staaten transparent machen. EU-Länder unterstützen, die Aufnahmen oder Abschiebungen übernehmen. Das war das grob umrissene Raster seit zwei Jahrzehnten, so soll es verfeinerter und verlässlicher so bald wie möglich Realität werden. Und doch gelingt es nicht.

Das hängt mit der in Teilen berechtigten Furcht zusammen, mit offensiver oder auch nur so scheinender Migrationspolitik Wahlen verlieren und Populisten stärken zu können. Doch erstmals seit 2015 hat sich wegen der Corona-Pandemie und des Energiepreisdebakels durch den russischen

Angriffskrieg das Gefühl in der EU breit gemacht, dass sich Krisen durch besseres Zusammenwirken leichter lösen lassen. Noch ist die gelebte Union bei der Migration nicht mehr als ein Phantom. Wenn es zupackende Regierungschefs, Kommissare und Parlamentarier mit Überzeugungskraft gäbe, könnte die EU zu einem „Wir schaffen das“ kommen. Die sind bislang jedoch nicht sichtbar geworden