„Haus der Mehrsprachigkeit“

Ist die Pflege der Herkunftssprache also ein Risiko, das die Integration erschwert? Im Gegenteil, sie sei eine Chance, ja eine „Superkraft“, die Migrantenkindern neue Wege eröffne, hält Anna Konopleva, Sozialpädagogin und russische Leiterin des hannoverschen „Märchenkoffers“, an diesem Tag in fließendem Deutsch dagegen. Seit sieben Jahren betreibt die 30-Jährige mit vielen Ehrenamtlichen auf zwei Stockwerken an der Rolandstraße bilinguale Bildungsarbeit, bietet Workshops, Projekte, eine offene Tür an. 402 Kinder nahmen allein 2019 an 31 Workshops teil. Nach Jahren, in denen das Angebot auf deutsch-russische Kinder beschränkt war, bietet der „Märchenkoffer“ jetzt auch Türkisch und Polnisch an. Konopleva träumt von einem „Haus der Mehrsprachigkeit“ in Hannover. Der Verein sei eine Anlaufstelle für Familien mit Migrationshintergrund aus ganz Hannover und biete mit seinem Konzept Perspektiven für ganz Niedersachsen, sagt Konopleva. Doris Schröder-Köpf, Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, versprach am Sonntag Unterstützung für das Projekt. Es sei von großer Bedeutung, dass Kinder die Möglichkeit hätten, ihre Muttersprache zu erhalten und auszubauen. Auch außerschulische Förderung wie die des „Märchenkoffers“ sei sehr wertvoll. Der Grund für den Wunsch nach Expansion im „Märchenkoffer“ ist an diesem Tag unübersehbar. Der Bildungsverein platzt aus allen Nähten. Nicht genug damit, dass man mittlerweile Kinder ablehnen muss. Der Raumnot geschuldet ist auch, dass man die Holzwerkstatt mittlerweile in einer Garage eingerichtet hat.

Was sagen andere Eltern aus dem „Märchenkoffer“? Bietet Mehrsprachigkeit unter Migranten Potenziale oder ist sie ein Problem? Nadine Renz, Projektmanagerin bei Volkswagen, beispielsweise möchte schlicht, dass ihre Kinder sich auch mit älteren Verwandten verständigen können. Renz kam vor 22 Jahren mit ihren Eltern, sogenannten Russlanddeutschen, nach Deutschland. Sie spricht mit Mann und den Kindern Maximilian (12) und Frederik (3) zu Hause Russisch. Draußen, das heißt im Kindergarten oder in der Schule, ist Deutsch angesagt. Jede Sprache sei ein Geschenk, sagt Renz. Ihre Kinder könnten später in den USA oder in Moskau studieren: „Sie haben mehr Chancen im Leben“. Shanna Gartenfluss (36), Mutter von Hannah (5) und Ava (1), ist Jüdin und 1992 als Kontingentflüchtling aus der Ukraine emigriert. Überhaupt nicht bestätigen kann die Juristin, dass die Mehrsprachigkeit der Integration ihrer Kinder schade. „Wir leben so viele Jahre in Deutschland, wir können problemlos die Werte dieses Landes und unsere Muttersprache weitergeben.“

Elisabeth Schilling, Professorin an der Bielefelder Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung, seufzt, wenn man sie auf diese Diskussion anspricht. Die 44-Jährige ist auch Jüdin, kam mit ihrer Familie 1995 als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Seit 2007 lebt sie in Hannover, ihr Mann, Jan Schilling, hat in Hannover an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung eine Professur. Es sei wichtig für die Entwicklung der Identität ihrer Kinder, dass sie auch den russischen Teil ihrer Familie lebten, dass da eine zweite Hälfte und keine Leere sei, sagt Schilling. Dass Mehrsprachigkeit unter Migranten der Integration schade, findet sie absurd. „Wir sind so viele Akademiker hier“, sagt sie mit Blick auf andere Eltern im „Märchenkoffer“. „Wir sind gut in unserem Beruf, wir zahlen Steuern“, sagt sie. Dennoch: Die Mutter von Jakob (15) und Clara (8) findet, das Klima gegenüber Migranten hat sich in Hannover verschärft. Im Sommer 2015 hätten die Leute gelächelt, wenn sie gehört hätten, dass sie im Supermarkt mit ihren Kindern Russisch spreche, sagt Schilling. Jetzt sei das nicht mehr so.

„Es geht Wissen verloren“

Profitieren nur Akademikerfamilien vom „Märchenkoffer“? Anna Konopleva bietet auch gesponserte, kostenlose Projekte für Kinder aus prekären Verhältnissen an. Kinder arbeitsloser Eltern, Kinder aus Familien mit berufstätigen Eltern mit niedrigem Bildungsniveau, die nicht Deutsch sprechen, es zum Teil auch nicht lernen wollen, liegen ihr sehr am Herzen. Gerade bei Migrantenkindern aus prekären Verhältnissen sei die Herkunftssprache manchmal das Einzige, was sie hätten, sagt sie. Was meint sie damit? Die Sozialpädagogin erzählt von einem Mädchen, Tochter einer alleinerziehenden Mutter, das aufgrund schwierigster Familienverhältnisse und fehlender Deutschkenntnisse gleich die erste Klasse wiederholen musste. Auch Freunde habe das Mädchen kaum gefunden. „Das Einzige, was sie gut konnte, war Russisch, aber das merkte in der Schule niemand“, sagt Konopleva.

Erst als das Mädchen zum „Märchenkoffer“ stößt, blüht es auf. Hier kann es sich endlich verständigen, fühlt sich akzeptiert. Auf einmal fällt auf, dass es begabt in Mathe ist. Der „Märchenkoffer“ kümmert sich auch um eine Deutschförderung. Heute klappt es auch in der Schule gut. „Wenn man so einem Kind sagt, es soll Deutsch lernen und die Herkunftssprache vergessen, geht ein Riesenstück an Wissen verloren“, sagt Konopleva. Wertgeschätzt und genutzt könne die Muttersprache gerade für Kinder aus prekären Verhältnissen aber unter Umständen die einzige Chance auf einen Einstieg in Bildung und Teilhabe sein.