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Beim Migrationsthema fallen Gefühl und Wirklichkeit auseinander“

 
 
„Beim Migrationsthema fallen Gefühl und Wirklichkeit auseinander“

In der öffentlichen Debatte heißt es oft: „Mehr Zuwanderung = mehr Kriminalität.“ Die ifo-Studie zeigt: So einfach ist das nicht. Ausländer tauchen zwar häufiger in der Kriminalstatistik auf, aber das heißt nicht automatisch, dass sie krimineller sind. Es steckt deutlich mehr dahinter.

Herr Alipour, viele Menschen glauben: Wo mehr Ausländer leben, da steigt auch die Kriminalität. Ihre Studie sagt klar: Das stimmt so nicht. Was läuft da schief in der öffentlichen Wahrnehmung?

Dass beim Migrationsthema Gefühl und Wirklichkeit auseinanderfallen, ist in der Forschung lange bekannt: Einheimische überschätzen die Zahl von Migranten, deren kulturelle Distanz, Arbeitslosigkeit, Sozialleistungsbezug, und eben auch ihre Kriminalitätsneigung. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Zum Beispiel thematisieren Medien überproportional Straftaten von Migranten. Besonders schwere Straftaten von Zugewanderten, wie zuletzt in München oder Aschaffenburg, können die Wahrnehmung von gesamten Bevölkerungsgruppen prägen. Verschärft wird das durch polarisierende Rhetorik, wie zuletzt im Wahlkampf. Dennoch ist auch unbestritten, dass Ausländer in der Kriminalstatistik gegenüber ihrem Bevölkerungsanteil überrepräsentiert sind.

Sie schreiben in ihrem Artikel sinngemäß, dass Ausländer in der Statistik überrepräsentiert sind, weil sie oft in Städten mit generell höherer Kriminalität leben. Können Sie das an einem Beispiel greifbar machen?

Nehmen wir zum Beispiel die Stadt Berlin und den Landkreis Bautzen in Ostsachsen. In Berlin ist sowohl die Kriminalitätsrate (Anzahl Straftaten pro Einwohner) als auch Migrantenanteil höher als in Bautzen. Aber es wäre zunächst naiv, die höhere Kriminalitätsrate einfach den Ausländern zuzuschreiben. Denn in Berlin ist die Bevölkerung insgesamt jünger, es gibt ein reges Nachtleben, und eine hohe Bevölkerungsdichte – alles Faktoren, die die Kriminalität unabhängig von der Herkunft beeinflussen.

Besonders der Wohnort bestimmt über Kriminalität

So vergleichen wir letztendlich Äpfel mit Birnen. Wenn man aber Berlin und Bautzen sowie die restlichen knapp 400 Kreise in Deutschland statistisch vergleichbar macht in Bezug auf Altersstruktur, Männeranteil, und Tatverdächtigenrate der Deutschen, dann verschwindet der Zusammenhang zwischen Ausländeranteil und Kriminalitätsrate. Das legt nahe: Die Überrepräsentation von Ausländern in der Kriminalstatistik erklärt sich vor allem durch ortsbezogene und herkunftsunabhängige Unterschiede wie Alter und Geschlecht.

Wie können Sie sicher sein, dass kriminalitätsbelastete Kreise, in die Ausländer offenbar ziehen, nicht aufgrund früheren Zuzugs erst kriminell wurden?

Das ist ein fairer Einwand. Wir berücksichtigen dies zum einen, indem wir die bestehende Kriminalitätsbelastung eines Kreises anhand der Tatverdächtigenrate der „Deutschen“ messen. Der Gedanke dahinter: Wenn bestimmte Wohnortfaktoren die Kriminalität für alle beeinflussen, dann sollte das auch in der „deutschen“ Tatverdächtigenrate abgebildet sein. Sofern mehr Ausländer die Kriminalität von „Deutschen“ nicht direkt erhöht, entsteht so kein Zirkelschluss.

Zum anderen untersuchen wir direkt, wie sich die lokale Kriminalitätsrate in einem Kreis zwischen 2018 und 2022 verändert, wenn der Ausländeranteil im selben Kreis ansteigt. Das Ergebnis: kein Zusammenhang. Diese Erkenntnis ist übrigens nicht neu. Auch internationale Studien kommen regelmäßig zu ähnlichen Befunden. Eine Studie der Uni Jena etwa zeigt, dass es auch zwischen 2015 und 2019 keinen Anstieg in den Kriminalitätsraten der Kreise infolge der „Flüchtlingskrise“ kam.

Wie wurde in Ihrer Analyse methodisch sichergestellt, dass der beobachtete Zusammenhang – oder besser gesagt, das Ausbleiben eines Zusammenhangs – zwischen Ausländeranteil und Kriminalitätsrate nicht durch andere sozioökonomische Einflussfaktoren verzerrt ist?

Wir verwenden die amtliche Kriminalstatistik nach Kreisen. Das erlaubt uns zu untersuchen, wie regionale Unterschiede in der Kriminalität mit Migration zusammenhängen. Allerdings sind damit methodische Grenzen verbunden: Individuelle sozioökonomische Faktoren lassen sich ohne detailliertere Daten nur schwer erfassen. Um solche Faktoren verlässlich zu berücksichtigen, wären anonymisierte Individualdaten notwendig. Genau auf diese Datenlücken weisen wir in unserer Forschung regelmäßig hin. Trotz dieser Einschränkungen gilt: Die Annahme, Migration führe zu einem Anstieg der Kriminalitätsraten in den Zuzugsregionen, lässt sich mit den vorhandenen Daten nicht belegen.

„Keine Veränderung der Kriminalität in Summe“

Bemerkenswert ist dabei: Der Null-Effekt gilt, obwohl Einwanderer eher jünger, männlicher und im Schnitt weniger gebildet sind als Einheimische. Ein möglicher Grund, warum die Kriminalitätsraten trotzdem nicht ansteigen, könnte der sogenannte „Aufzugeffekt“ sein: Migration führt dazu, dass Einheimische sozial und wirtschaftlich aufsteigen, durch bessere Bildungschancen und Arbeitsmarktanreize. Das senkt wiederum ihre Straffälligkeit. In der Summe beobachten wir somit keine Veränderung bei der Kriminalität.

Wie gehen Sie mit dem Argument um, dass auch ein gleich hohes kriminelles Verhalten unter Migranten wie unter Einheimischen als problematisch gesehen wird, da von Neuzuwanderung idealerweise keine zusätzliche Kriminalität ausgehen sollte?

Welche Erwartungen wir als Gesellschaft an Migranten stellen, ist in erster Linie eine normative Frage – also eine Frage der Werte – und weniger eine ökonomische. Als Ökonomen beschäftigen wir uns vor allem mit Sachverhalten, die sich empirisch bewerten lassen. Nehmen wir also ein Gedankenexperiment: Angenommen, wir würden keine Zuwanderung mehr zulassen, weil jeder Mensch theoretisch eine Straftat begehen könnte.

Laut Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) würde das dazu führen, dass das Potenzialwachstum auf null sinkt. Das bedeutet: Selbst wenn alle Produktionskapazitäten genutzt würden, gäbe es kein Wirtschafswachstum mehr. In einer alternden Gesellschaft wie der deutschen hätte eine pauschale Anti-Migrationspolitik erhebliche Kosten. Diese Konsequenzen sollten bei der gesellschaftlichen Debatte über Zuwanderung mitbedacht werden.

Welche Rolle spielen soziale Faktoren – etwa Jobs, Bildung oder Wohnumfeld – wenn es um Kriminalität geht?

Diese Faktoren spielen eine zentrale Rolle. Zahlreiche Studien unterstreichen die Bedeutung des Wohnumfelds. So belegt eine Studie, dass das Kriminalitätsrisiko junger Geflüchteter in Dänemark durch die lokale Kriminalitätsrate ihres zugewiesenen Stadtteils stark beeinflusst wird. Die Aussicht auf legale Verdienstmöglichkeiten durch Bildung und Zugang zum Arbeitsmarkt, reduziert das Straffälligkeitsrisiko enorm.

„Gewalterfahrungen im Herkunftsland kann Straffälligkeit erhöhen“

Daraus können wir einiges lernen. So wäre es sinnvoll, ankommende Geflüchtete auch nach Kriterien wie lokaler Kriminalitätsbelastung und der Arbeitsnachfrage regional zu verteilen. Damit könnten Menschen schneller in den Arbeitsmarkt integriert werden. Daneben würde eine weniger bürokratische Anerkennung ausländischer Fachkräfte dafür sorgen, dass Migranten seltener unterhalb ihres Qualifikationsniveaus arbeiten müssen.

Viele Menschen sorgen sich vor allem bei der Ankunft größerer Gruppen von Geflüchteten um ihre Sicherheit. Was sagen Ihre Daten dazu?

Solche Sorgen sind nicht auf Deutschland beschränkt. Studien aus verschiedenen Ländern zeigen, dass Zuwanderung bei der einheimischen Bevölkerung mit einem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis einhergeht – selbst wenn objektiv keine Zunahme der Kriminalität zu beobachten ist. Eine Untersuchung aus Chile etwa zeigt, dass Einheimische infolge von Zuwanderung vermehrt in Sicherheitssysteme für ihre Häuser investieren, obwohl die Kriminalitätsrate unverändert bleibt. Es gibt auch Forschung, die zeigt, dass Gewalterfahrungen im Herkunftsland die Straffälligkeit erhöhen.

Diese Gewaltdelikte richten sich dabei meist gegen Personen aus der eigenen Bevölkerungsgruppe. Insgesamt lässt sich aus der Forschung kein systematischer Zusammenhang zwischen Fluchtmigration und steigender Kriminalität an den Zuzugsorten erkennen – auch nicht bei schweren Delikten wie Tötungsdelikten oder sexuellen Übergriffen.

Allerdings ist es wichtig, die Grenzen der Statistik zu benennen: Über seltene, dafür möglicherweise besonders schwerwiegende Straftaten wie Terroranschläge lassen sich keine statistischen Aussagen treffen. Die Kernaussage der Untersuchung ist, dass wir trotz schwerer Straftaten, wie in Aschaffenburg, nicht einfach auf die Kriminalitätsneigung ganzer Bevölkerungsgruppen schließen können und sollten.

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund politische Forderungen nach schärferen Zuwanderungskontrollen mit dem Argument der öffentlichen Sicherheit? Halten Sie diese für empirisch gerechtfertigt?

Zwischen 2011 und 2023 hat sich der Ausländeranteil in Deutschland nahezu verdoppelt. Die Kriminalitätsrate ist im selben Zeitraum jedoch gefallen. Vor diesem Hintergrund erscheint die These eines sicherheitspolitischen Notstands, der scharfe Zuwanderungskontrollen rechtfertigt, empirisch wenig stichhaltig. Hinzu kommt: Die Datenlage ist unzureichend, um fundiert zu beurteilen, in welchem Umfang solche Maßnahmen Straftaten verhindern.